Wenn im Herbst die Sennen die Alp räumen und mit der Herde und den Milchgeschirren bergab ziehen, so werfen sie noch einen letzten Blick zu den Hütten, um zu sehen, ob auch überall die Riegel gestossen sind, und wenn alles in Ordnung ist, so rufen sie: «Auf Wiedersehen im nächsten Sommer!» Über die Alp kommt die stille Bergeinsamkeit, und nur ab und zu an goldenen Herbsttagen schleicht der Jäger um die Hütten herum. Dann steigt der Winter hernieder von den weissen Bergspitzen und deckt die Hütten mit weichem Flaum zu. Die Alp versinkt in den Winterschlaf, der lange, lange dauert, und wenn im Tal unten schon alles wieder grünt und die Vögel pfeifen, schlafen die Hütten immer noch unter der weissen Decke, bis auf einmal der Föhnsturm über die Hänge pfeift, den Schnee gierig wegleckt und an den Balken rüttelt, dass die Sparren krachen. Da geht ein grosser, tiefer Atemzug über die Alp, die Erde öffnet sich, hier und dort spriessen samtfeine Krokus und Glockenblumen hervor, die Matten erglänzen im hellen Grün, bis sie eines Tages wieder von Neuschnee zugedeckt werden, und nun geht es an ein Kämpfen hin und her, und wenn der Schnee unter den Sonnenstrahlen zerrinnt, strecken die Blumen flugs die Köpfe hervor, um rasch sich zu baden im goldnen Äthermeer, denn schon über Nacht können sie wieder eingeflockt werden. Nun erscheinen nach einer Reihe von schönen Tagen die Männer der Alpgenossenschaft und sehen sich nach dem Schaden um, den der Winter an Hütten und Ställen und an den Pferchen angerichtet hat. Hierauf geht es an ein Klopfen und Hämmern, Flicken und Nageln, bis alles instand gesetzt ist und die von der schweren Schneelest eingedrückten Mäuerchen sich wieder in ihrer alten Grösse erheben. Hernach ziehen die Männer hinunter ins Tal, und eine Woche später erscheinen sie mit den braunen Kühen, die mit ihren Schellen am Halse läuten, mit den schwarzen Augen blinzeln und das Maul schlecken, sobald sie das frische Alpenkraut wittern.
Vor Jahren hatte sich auf der Meidenalp etwas ganz Besonderes ereignet. Als die Dörfler zur Alpung hinaufstiegen und die Hütte aufschlossen, wo die Sennen schlafen und der Käse und die Butterballen gemacht werden, da fehlte der grosse kupferne Alpkessel. Man suchte ihn überall und konnte ihn doch nirgends finden. Er musste während des Winters von einem frechen Dieb gestohlen worden sein. Die Älpler bestellten unten im Tale einen neuen; doch als sie ein Jahr später wieder hinaufzogen, fehlte der neue Kessel wieder, und so auch das nächste Jahr. Das war für die Alpgenossen jedesmal ein schwerer Verlust, denn nie war es ihnen gelungen, dem Dieb auf die Spur zu kommen.
Da wählte die Genossenschaft einen neuen Alpenvogt, dem man besonders einschärfte, dafür Sorge zu tragen, dass der Kessel nicht mehr gestohlen werde. Er versprach es, bereute aber nachher sein Versprechen. Wie sollte er das verhüten! Bis zur Alp waren es fünf Stunden im Sommer bei gutem Weg, und im Winter, da konnte er doch nicht jeden Tag hinaufsteigen und nach dem Kessel sehen. Da fiel ihm der Doktor Bärtschu ein, ein bekannter Wunderarzt, der für alles ein Kräutlein wusste. Man sagte von ihm, er besitze zwei Fläschchen, die ihm einst ein Heide mitten im Walde übergeben hätte, das eine grün und gelb gefärbt, das andere blau und rot, aus denen er alle Krankheiten herauslese. Wahr ist, dass er immer zwei solche Fläschchen mit sich herumtrug und sie jedesmal prüfend beschaute, wenn er zu einem Kranken gerufen wurde. Bärtschu sagte dem Alpenvogt, wenn man sich die Mühe genommen hätte, ihn zu fragen, so wäre er schon imstande gewesen zu machen, dass sowohl der Käsekessel in der Alphütte bleibe, als auch der Dieb gefasst werde. Er holte aus dem Nebenkämmerlein ein Fläschchen, das mit einer gelben Flüssigkeit angefüllt war, in der allerlei Würzelchen schwammen. Er gab es ihm mit der Bemerkung, er solle das Fläschchen wohlverwahrt mit sich herumtragen, mehr brauche er nicht zu tun, er werde die Wirkung dann schon sehen.
Der Alpenvogt bedankte sich sehr, grüsste freundlich und ging fort. Er stieg, sobald die Alp geräumt war, fleissig hinauf, um nach dem Kessel zu sehen und nach dem Dieb zu forschen, aber umsonst. Bis tief in den Herbst hinein blieb alles beim Alten. Das Alpental war einsam und verlassen wie immer, wenn die Sennen mit der Herde davongezogen sind, und der Kessel war an seinem Ort. Da änderte das Wetter; zuerst regnete es zwei Tage lang, dann fiel der Schnee in grossen Flocken, so dass er auf der Alp klafterhoch liegen musste. Den ganzen Winter hindurch war es nicht möglich, auch nur bis halb ins Tal hineinzudringen; der Weg, der stellenweise als schmales Band an kirchturmhohen Wänden entlang führt, war verhangen, so dass man nur auf grossen Umwegen zur Alp gelangen konnte. Ende April, als der Schnee zurückwich, ergriff der Alpenvogt die Schneereifen und den Stock und stapfte ins Tal hinein, der Alp zu. Schon aus weiter Ferne sah er, dass die Tür des Alpstaffels offen war, und als er eintrat, erschrak er nicht wenig. Da stand ein Mann mit tiefliegenden, erloschenen Augen und erdfahlem Gesicht, wie einer, der eben zur Tür hinaus will. Vom Schnurrbart und den Haarspitzen fielen kleine Eiszapfen, den Kessel trug er am Rücken, und die Linke hielt er ausgestreckt, als ob er die Tür erfassen wollte. Als der Vogt den Alpkessel berührte, sank der Mann zu Boden und zerfiel in Staub und Asche.
Von nun an blieb der Kessel in der Meidenalp sicher vor Dieben.
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.