Die früheren Bewohner des Lötschentales sollen recht einfältige Menschen gewesen sein. Eine rühmliche Ausnahme machte Toni der Schafhirte, obwohl er in einem andern Tale nicht zu den sonderlich Gescheiten gezählt hätte. Er hütete jeden Sommer zuhinterst im Tale, ganz nahe beim Langgletscher, seine Schafherde. Wenn die Sonne gegen Mittag gar heiss schien, so dass es über den Matten flimmerte, legte er sich platt auf den Rücken und schlief ein.
So lag er auch wieder einmal im Schatten eines mächtigen Felsblockes und verschnarchte die heisse Mittagszeit. Als er sich erhob und die Augen ausrieb und die Arme ausschlenkerte, dass die Löcher in den Achselhöhlen seiner Jacke bei jedem Schwunge noch weiter rissen, und dann nach der Herde blinzelte - ja, wo war denn die? Im Nu war er ganz wach, aber die Herde war weg. Er lief dem milchig weissen Gletscherbach entlang bis dort, wo er dem Gletschertor entströmt, dann wieder zurück und rief «tschu, tschu», aber die Herde war weg und alles Suchen umsonst. Er kletterte das Gehänge hinauf und stapfte durch den schüttern Föhrenwald, wo die Zapfen noch vom letzten Jahr her zu tausenden herumlagen, geriet in die Nähe des Bergsees und gedachte den Kopf ein wenig in das kühle Wasser zu tauchen, da ihm auf einmal ganz heiss geworden war. Er legte sich am Ufer hin, spreitete die Beine auseinander und streckte den Kopf nach vorn, und siehe, da unten auf dem Seegrund waren die Schafe, alle tot - doch nein, sie bewegten sich hin und her, liefen herum wie auf der Matte und frassen etwas auf dem schwärzlichen Grund, das mochte Binsenkraut oder Seegras sein, er konnte es nicht unterscheiden. «Sie werden halt bei dem heissen Wetter viel Durst gehabt haben», dachte er, «drum sind sie in den See gestiegen, und während ich fauler Kerl geschlafen habe, sind sie mir fortgelaufen. Was soll ich ungeschickter Wicht jetzt tun? Nichts kann ich tun. Ins Dorf werde ich laufen und die Leute holen, damit man die Tiere wieder heraufzieht, wenn sie dann noch am Leben sind!»
Und das tat er. Er lief bergab, so schnell ihn die Füsse trugen, dem Dorfe zu. Die Schafe aber weideten auf dem Rücken des Bergkammes so still und ruhig, wie Schafe eben weiden, und spiegelten sich unten im See. Hinter Toni lief fast das ganze Dorf einher, denn jede Familie hatte ein oder mehrere Schäflein bei der Herde, und jeder war höchst erstaunt zu sehen, wie die Tiere da unten im Wasser mit vollem Appetit das Seegras abrupften und immer noch auf allen Vieren zu stehen schienen. Die Dörfler lösten das Seil von der Kirchenglocke; das eine Ende wurde dem toni um den Leib geschlungen, und nun liess man ihn in das Wasser gleiten, damit er die Schafe der Reihe nach heraufhole. Als Toni das kalte Wasser verspürte, schrie er laut auf: «Ziecht wieder, ziecht wieder», aber sie verstanden ihn falsch, und statt ihn heraufzuziehen, brüllten sie ihm zu: «Siehst du Widder, siehst wohl auch Aue» (Mutterschafe) und liessen ihn nur tiefer hinunter. Durch sein Zappeln verwickelte sich sein Röcklein an einem aus dem Grund aufragenden Felszahn, der ihn auffing. Er suchte sich mit den Händen zu halten, und als ihm so übel wurde, dass er zu sterben glaubte, zogen sie oben das Seil wieder an. Auf dem Seegrund aber lag seit vielen hundert Jahren ein wunderprächtiges Schloss mit unermesslichen Gold- und Silberschätzen, und als nun Toni mit den Händen in die Taschen fuhr, zog er die kostbarsten Sachen heraus. Er zeigte den Bauern die Schätze und sagte: «Hättet ihr mich nur noch tiefer hinuntergelassen, so hätte ich noch mehr gefunden; das Schaf habe ich halt fahren lassen, um den Schmuck zu erwischen, denn dort unten wimmelt es von goldenen Bechern, Ketten, Spangen, Tellern und andern Geraten!»
Sofort wollten sich mehrere der Dörfler ins Wasser stürzen, um auch etwas heraufzuholen, aber der Älteste rief: «Halt, halt, Respekt vor der Obrigkeit! Der Gewalthaber ist bei uns, der muss aus Respekt zuerst hinuntergeseilt werden!» Der junge Dorfpräsident trat vor, spuckte in die Hände, wickelte sich das Seil um den Leib, warf das grosse rotgeblümte Taschentuch weg, damit er mehr Platz habe im Sack für die Goldsachen, und Toni half mit das Seil halten. Der Präsident wurde so tief hinuntergelassen, als das Seil langte, denn er sollte einen guten Fang tun, schon weil er Präsident war. Die Männer warteten immer auf das Zupfen am Seil, und da kein Zeichen zum Heraufziehen gegeben wurde, dachten sie: «Aha, der will alles einsacken, der Filzkragen, aber wir wollen auch noch dran, herauf muss er, der Lump», und so zogen sie aus Leibeskräften herauf. «Seht, wie er vollgestopft ist», riefen sie, als er zum Vorschein kam, «er kann sich nicht einmal mehr rühren!» Nun sahen sie erst, dass er tot war. Gefunden hatte er nichts auf dem Seegrund, der Gewalthaber, aber sein Leben verloren. Keinen Atemzug tat er mehr.
Da wurden die Lötscher zornig und fuhren über den Toni her. Der war einzig Schuld an dem Unglück. Sie hielten einen kurzen Rat und beschlossen, ihn zu ertränken, aber nicht hier im See, denn das Seewasser mochte ihm so wenig anhaben, als den Schafen, sondern draussen in der Rhone, wo sie am schnellsten fliesst und grosse Wellen wirft. Sie banden ihm die Beine zusammen, steckten ihn in einen Sack und trugen ihn zum Tal hinaus. Bei der Rhone angekommen, war der Zorn verflogen, und sie wagten nicht, den Schafhirten so eins, zwei, drei in den reissenden Fluss zu werfen. Sie legten den Sack am Ufer nieder und gingen ins nächste Dorf, um sich dort mit ein paar Kannen Weisswein Mut zuzutrinken. Als Toni merkte, dass sie davon gelaufen waren, rührte er sich, denn das nahe Plätschern und Gurgeln des Wassers war ihm unheimlich. Er rief aus voller Lunge: «Ich mag sie nicht, ich will sie nicht!» Das hörte der Schweinehirte, der mit einer grossen Herde Rüsseltieren des Weges kam und fragte: «Wen magst du nicht?» «Ei, die Grafentochter, die sie mir aufhalsen wollen!»
«Die mag ich schon», erwiderte der Schweinehirt, «die mag ich schon!»
«So komm, binde mich los und schlüpfe geschwind in den Sack, aber schnell!» Der Schweinetreiber löste die Schnur, liess den Gefangenen heraus, zog sich den Sack über den Kopf und liess ihn zubinden. Toni aber hielt sich den Bauch vor Lachen, machte das breiteste Maul, das er je gemacht und trieb die Schweine taleinwärts.
Bald kamen die Lötscher dahergestolpert, alle pumpenregenvoll, und als der Hirt im Sacke hörte und merkte, was sie mit ihm anstellen wollten, schrie er: «Ich bin ja gar nicht der Toni, ich bin ja gar nicht der Toni, lasst mich los!» «Wir wollen dir schon zeigen, wer du bist», überschrien sie ihn, packten den Sack am Kopf- und am Fussende, zählten eins, zwei, drei und schleuderten ihn so weit hinaus in die Rhone, dass sie dabei selber fast hineingeplumpst wären. Ein Klatschen und dumpfes Gurgeln, dann war alles vorbei. Die Wellen hatten ihn verschlungen. Die Lötscher wischten sich die Bartstruppen und machten sich auf den Heimweg. Sie waren noch keine Stunde im Tal drin, als sie den Toni einholten, der ganz gemütlich einen grossen Trupp Schweine vor sich hertrieb und ein Liedlein pfiff. «Was», staunten sie, «wir haben geglaubt, du lägest draussen in der Rhone, potz Wetter und Steinschlag!» - Toni jedoch leckte sich die Lippe und sagte: «Hättet ihr mich nur noch weiter hineingeworfen, dann hätte ich noch mehr Schweine erwischt, denn dort gibt es Schweine, magere und fette, grosse und kleine, mehr als Tannen im Wald!» Mehr hörten sie nicht. Der Vorderste machte kehrt und lief davon, und die andern rannten ihm nach, und draussen bei Gampel sprangen sie in einem grossen Satz in die Rhone, dass es klatschte und spritzte, und keiner kehrte mehr zurück.
Dadurch kam Lötschen in grosse Trauer, denn das Tal wäre beinah ausgestorben.
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.