Vor vielen Jahren lebte auf Schattenhalb ein Kesselflicker, der mit dem besten Willen seine Familie nicht mehr durchschleppen konnte, denn es fehlte ihm an Arbeit. Überall, wo er auf seiner Wanderung hinkam, fand er die Leute in der grössten Armut und in schrecklichem Elend. Die Pest hatte die Dörfer verseucht und ganze Familien samt dem Vieh und dem Haushund hinweggerafft. Die überlebenden waren infolge des Schreckens wie vom Wahnsinn befallen, tobten und rannten durch die Dorfstrassen oder sassen betäubt vor den Häusern und brüteten vor sich hin. Auf der Schattseite hatte er schon alle Dörfer durchhausiert und grad so viel oder wenig verkauft, dass es kaum der Rede wert war. Müde und zerschlagen zog er über die Rhone auf die Sonnseite. Aber dort hatte die Pest ebenso schlimm gehaust. Er stieg die Berghalde hinauf, keuchte und wischte sich von Zeit zu Zeit den Schweiss von der Stirne. Sein einziger Wunsch war, sich hinzulegen und zu ruhen, zu ruhen für immer. In dem Dorfe, das er jetzt durchschritt, war es totenstill. Die Haustüren waren weit offen, ein übler Leichengeruch liess ihn erschaudern, und auf alles Klopfen rührte sich kein Mensch. Vor der letzten Hütte kauerte auf der Hausschwelle ein steinaltes Männchen mit einem langen zerzausten Bart und grünen Froschaugen. Traurig schaute es zu ihm auf und sagte mit schnarrender Stimme: «Brauchst dir keine Mühe zu geben mit deinem Klimpergeschirr, wirst für keinen Fünfer Blech verkaufen, denn die Pest ist hier zu Gast gewesen. - Ja, ich bin der einzige Überlebende des Dorfes, und ich werde dir nichts abnehmen, denn ich habe gutes und schlechtes Geschirr im Überfluss. - Ein reicher Mann bin ich geworden, das ganze Dorf gehört mir, mir allein», und da lachte er wild auf und schlug sich mit der Faust an die Stirne. Dann glotzte er den Hausierer traurig an: «Soll ich dir den Weg zeigen, wo du Arbeit finden wirst?»
Der Kessler ruckte sein schweres Bündel am Rücken und sagte: «Ja, ich wäre froh, aber es wird halt nirgends mehr etwas zu machen sein, und das Geschirr bleibt mir auf dem Buckel!»
Das Männchen' reckte sich und bedeutete dem Kessler, zu folgen. Er steckte die dicke Haselgerte zwischen die Kessel und Zinnpfannen, ruckte das Bündel und stapfte hinter dem Männchen drein, das langsam den Berg hinauf trippelte, alle zehn Schritte anhielt, hüstelte und ihn zuletzt auf eine spitze Fluh hinaufführte, die von der Rückseite leicht zu ersteigen war, vorn aber tannenhoch und schroff abfiel. Die Sonne war seit geraumer Zeit hinter die Berge gesunken, und es dunkelte rasch. Das Männchen wies auf einen schmalen Pfad, der von dem Felsenzahn, auf dem sie standen, in schnurgerader Richtung, aber stets aufwärts steigend, über das breite Rhonetal hinüber auf die Spitze des Gliserhornes führte, das mit seinem Schneegipfel über die dunkle Masse der Felsenkette aufragte. Auf der Spitze des Gliserhornes brannte ein Lichtlein, nicht grösser als die Sterne am Himmel. Das Männchen schnarrte: «Schlag diesen Weg ein und halt immer scharf auf das Licht! Die stockdunkle Nacht wird hereinbrechen, und die bösen Geister werden dir zum Scheine grosse, breite Brücken bauen; du darfst aber das Licht nicht aus den Augen verlieren, sonst wirst du in ewige Nacht versinken. Unter der Brücke lagert das Meer, und das Meer wird ruhig daliegen, wie ein grüner Bergsee, dann wird es rot und wallend werden und zuletzt schwefelgelb und stinkend, und die wütenden Wellen werden über den Weg schlagen und dich zu verschlingen drohen!»
Der Kesselflicker, dem das ferne, ferne Lichtlein neue Hoffnungen erweckte, bedankte sich sehr, packte den Geschirrstecken fest in die Faust, fasste das Lichtlein scharf ins Auge und begann die Wanderung auf dem schmalen Luftweg. Im grossen, langsamen Bergschritt griff er tüchtig aus, so dass die Blech- und Zinngeräte an seinem Rücken klirrend zusammenprallten und den Takt dazu schlugen. Unter sich sah er eine grünschillernde Wasserfläche, die sich dehnte wie ein unendliches Meer, aber bald glühte der Meeresspiegel auf in einem Purpurrot; die Wellen begannen sich zu kräuseln, wurden grösser und grösser, und dieses Hin- und Herwiegen der Wellen machte ihn schwindlig; er fing an zu schwanken und zu straucheln, fand aber mit dem Stecken immer wieder das Gleichgewicht. Wenn er nur einen Herzschlag lang in die Tiefe schielte, so glaubte er schon zu stürzen, doch rasch richtete er sich an dem strahlenden Lichtlein empor und schritt wacker fürbass. Er achtete der schönen, breiten und hellerleuchteten Brücken nicht, die verlockend aus dem Wasser aufstiegen, und blieb auf dem schmalen, holprigen Weg. Je näher er dem Lichtlein auf der Gliserhornspitze entgegenrückte, desto heller brannte es. Der Pfad war jetzt in tiefstes Dunkel gehüllt, und nun brauste es unter ihm wie Meeressturm; die gelblich schimmernden Wogen rollten mit unerhörter Kraft gegen den Weg, den er wanderte, überschlugen sich und drohten, ihn fortzureissen. Aber wie an granitenen Felskanten zerschellten sie, so dass der kochende Gischt wie Riesengarben hoch aufspritzte, ihm ins Gesicht schlug, ihn in einen Schaumschleier hüllte und seine Kleider durchnässte. Das stinkende Wasser verschlug ihm den Atem. Aber schon war er dem lichten Stern ganz nahe gekommen, und mit der letzten Kraft kämpfte er sich durch die schäumende Brandung und die turmhoch aufspritzenden Wellen.
Da versank plötzlich das Meer, eine grosse, heilige Ruhe umgab ihn, er war am Ziele und stand auf einem grossen, ebenen Platze, vor einer mächtigen, aus schneeweissem Marmor gebauten Kirche. In der schönen, reichgeschmückten Fassade zählte er zwölf Türen. Auf der Spitze des Turmes, der in den Himmel hinein zu ragen schien, glänzte der Stern in blendend weissem, ruhigem Lichte. Das kam ihm alles so feierlich, so schön und so heilig vor, dass er die Hände falten musste. Über dem Eingangsportal stand zu lesen:
Dom der ewigen Freude. Zu beiden Seiten des Portales standen die Wächter in weissen Hemden mit goldenen Kragen, und darauf war geschrieben SZ (Sit Zion). Der eine trug auf der Schulter einen Pickel, der andere eine Schaufel.
Der Kesselflicker wollte sein schweres Werkzeugräf niederlegen, um als anständiger Mensch in den Dom zu treten; es wurde ihm aber gedeutet, er möchte nur alles mitnehmen. So schritt er mit der klirrenden Bürde durch das Portal in eine festlich erleuchtete, von Menschen angefüllte Halle. Sie sah aus wie das Innere der Kirche zu Hause, nur war hier alles gross, majestätisch, feierlich. Vorn und hinten wurde die Halle gekreuzt von einem Quergang. Auf der rechten Seite des vordern Kreuzganges bemerkte er eine Totenbahre. Er stellte sein Blechgeschirr so leise als möglich darauf nieder, kniete völlig erschöpft und schweissbedeckt in einen Stuhl und hörte auf die schöne, himmlische Musik, die aus dem Chor zu ihm herüberdrang. Das klang bald wie das Brausen der Orgel, bald wie das Rauschen des Wildbaches, der, von den Höhen niedergestiegen, ruhig und gemach durch die grünen Auen der Niederung dahinzieht. Die Gestalten im Kreuzgang waren mit weissen Gewändern verhüllt, kehrten dem Portal den Rücken zu und hielten beide Hände vor das Gesicht. Die im Kreuzgang vor dem Chor hielten die Arme auf den Stuhl gestützt und achteten seiner nicht.
Der Kessler wagte kaum zu atmen, so feierlich war es ihm zu Mute, und er schaute staunend herum. So weit sein Auge reichte, alles starre, unbewegliche Gestalten, nur im Chor vorn herrschte heller Jubel, als ob lauter Engelstimmen erschallten. Dort musste es schön sein, dorthin wollte er gehen. Er stand auf, aber zwei weissgekleidete Knaben näherten sich ihm, fassten ihn sanft an den Armen und sagten, er dürfe nicht so schmutzig in den Chor, er solle ein wenig warten. Da sank er wieder in den Stuhl zurück, aber als die Knaben verschwanden, versuchte er nochmals, nach vorn zu gelangen, denn es zog ihn mit aller Kraft dorthin. Da erschienen zwei festlich gekleidete Männer in roten Gewändern und sagten zu ihm: «Folge uns, du bist noch nicht sauber, wir werden dich waschen und reinigen, dann darfst du zu den Scharen gehen, die im Chore singen und lobpreisen!» Sie führten ihn am Arme durch die Menge, die stumm Platz machte, schritten mit ihm durch die Tür des Kreuzganges, stiegen die Treppe eines hohen Turmes hinauf und öffneten die Pforte, die in ein schönes Zimmer führte. Auf dem Tische lagen Geisseln mit fest zusammengedrehten Schnüren; an der Wand standen Waschgeschirre, und in der Mauer befestigt blinkten grosse, goldene Wasserhahnen. Die Männer zogen ihm die Kleider aus, füllten die Zuber mit Wasser, gossen zuerst laues, dann kochend heisses Wasser über ihn und peischten ihn mit den Geisseln, dass die Haut in Fetzen von ihm fiel. Dann bespritzten sie ihn mit eiskaltem Wasser, und sofort bedeckte sich sein Leib mit einer jungen, zarten Haut, und die schrecklichen Schmerzen lösten sich auf in ein wunderbares, himmlisches Wohlbehagen. Hierauf zogen sie ihm ein feines, weiches Musselinhemd an und sagten, jetzt dürfe er in das Chor gehen. Sie geleiteten ihn die Treppe hinunter und durch den Kreuzgang zu den singenden Seligen, hiessen ihn in einen grossen, gepolsterten Lehnstuhl knien und den himmlischen Vater um ein schönes, ewiges Hüttchen bitten; er solle sich etwas recht Schönes ausdenken und das dann wünschen. So kniete er im Chor nieder und betete das Vaterunser so innig, dass er darob das Wünschen vergass. Kaum war er damit zu Ende, so waren die Knaben schon wieder zur Stelle und winkten ihm, zu folgen und einem andern Platz zu machen.
Sie schritten zum Tempel hinaus und wanderten fast eine halbe Stunde auf einer schönen, breiten Strasse dahin. Hohe Bäume mit grossen Blättern säumten den Weg, Bäume von solcher Pracht, wie er noch keine gesehen, und zwischen den Stämmen durch sah er in einen unermesslich grossen Garten, in dem es herrlich duftete von Levkojen, Reseden und Geranien. Er sog den Duft ein und konnte nicht genug davon bekommen. Da standen sie vor einem Weinberg, der voll reifer Früchte hing. «Iss, so viel es dich gelüstet», sagten die Führer zu ihm. Er pflückte eine Traube, aber jedesmal, wenn er eine Beere zum Munde führen wollte, war er schon satt. Als er alle Sorten versucht hatte, überreichte ihm einer der Knaben an einem grünen Band den Schlüssel zu seinem Haus, das er nun ewig bewohnen sollte. Er konnte nicht recht erkennen, wie es aussah, denn es flimmerte ihm vor den Augen ob all der Pracht, die ihn umgab. Er sah nur, wie mächtige Nelkenstöcke vom dunkelsten Rot bis zum schneeigen Weiss über die Gesimse herunterhingen. Als er fragte, ob er denn mit diesem einen Schlüssel alle Türen aufschliessen könne, erwiderten die Knaben, dieser eine Schlüssel öffne überall. Dann fragte er, ob er nicht auch seine Familie und seine Verwandten und Freunde herbeiholen könne, denn hier sei es schön, und er fühle sich so glücklich. Da sagten die Knaben: «Sie werden schon kommen, aber nicht alle. Siehst du dort vor dem grossen Portal des Domes den Bischof in der hohen Mütze und mit dem langen Krummstab? Der steht schon lange dort und kann noch lange warten, er kommt doch nicht herein!»
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.