Die Schlange im Feldrietli

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Vor uralten Zeiten dehnte sich vom jetzigen Städtchen Werdenberg bis in den langen Graben, gegen Sevelen hin, eine prächtige Stadt aus. Da wo jetzt das Feldrietli ist, stand das herrschaftliche Schloss, der Sitz einer Gräfin. Diese war ein schlechtes, gottloses Weib, das durch ehrvergessenen Lebenswandel den Gatten frühzeitig ins Grab gebracht hatte. Und wie der Herr, so der Diener: Ihre Untertanen, die Bewohner der Stadt, waren nicht besser als ihre Herrin; sie fröhnten jeglichem Laster. Alle Zeichen, welche der liebe Gott vom Himmel herunter den Sündhaften gab, blieben erfolglos. Daher beschloss er ihren Untergang.

In einer Nacht versank die Stadt mit allen Bewohnern. Der Werdenbergersee, das Feldrietli und die sumpfige Ebene des langen Grabens sind noch Zeugen jener Gottesstrafe. In den tiefen "Gunten" des Sees haben schon viele die Spitzen von Kirchtürmen gesehen.

Die Gräfin lebt jetzt noch als grosse Schlange fort und hütet ihre im Ilgenstein (Felsen beim Feldrietli) verborgenen unermesslichen Schätze. Sie trägt einen Bund Schlüssel und eine Krone, alles aus Gold. Von Zeit zu Zeit kommt sie zu einer Quelle im Feldrietli, wo sie Wasser trinkt; vorher aber legt sie Krone und Schlüsselbund ab.

Man könnte in den Besitz der Schätze gelangen, wenn es glücken würde, von der Schlange unbemerkt, Krone und Schlüsselbund zu erhaschen; dieses kann geschehen, wenn man ein Tüchlein darauf-wirft und rasch genug enteilt.

Dass das schwer ist, musste ein Reitersmann erfahren. Als dieser vor vielen, vielen Jahren von Altendorf her Flath zu ritt, sah er Krone und Schlüsselbund neben einer Quelle am Boden liegen; schnell sprang er vom Pferde, warf ein Tüchlein darauf, schwang sich damit behende wieder aufs Pferd und sprengte im Galopp davon. Die Schlange war aber noch flinker als das Pferd; in der Luft schoss sie dem Reiter nach. Dieser fürchtete, von ihr durchbohrt zu werden, und rettete nur durch Wegwerfen der erhaschten Kostbarkeiten sein Leben.

Seither hat keiner mehr versucht, in den Besitz der Schätze zu gelangen; auch wurde die Schlange schon lange nicht mehr gesehen.
Heinrich Hilty.


Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 101, S. 49f

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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