Der Geissbub im Vonöischi

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Der Vonöischi oder Illgraben, wie er auch genannt wird, ist ein Felsenkessel von wilder Grossartigkeit, mit rötlichen, vom Regen verwaschenen Felswänden, die nackt und schroff aufragen, wie die Kraterwände eines erloschenen Vulkans. Die eine Seite ist völlig kahl und von beinahe senkrechter Steilheit. Im Schosse dieses schauer­lichen Felsentrichters bilden sich nach starken Regengüssen Schlamm­ströme, die das grosse Delta eines mächtigen Fichtenwaldes, des Pfynwaldes, aufgeschwemmt haben. In diesen Bergschlund sollen die bösen Geister gebannt sein. Einmal ist ein Jäger dort zu Tode gefallen und nicht mehr gefunden worden, und alte Leute behaupten, sie hätten die Seelen Verstorbener auf schwarzen Pferden hineinreiten sehen.

Der Ziegenhirt von Leuk hatte sich eines Abends sehr verspätet. Er hatte beim Illgraben geweidet und zog nun den langen, sachte zur Rhone abfallenden Pfynwald hinunter. Bei der Rhonebrücke zählte er nochmals die Herde, und da fehlte ihm ein Zytgeissli, wie man die ausgewachsenen Ziegen nennt, die noch kein Junges geworfen haben. Es war dieselbe Ziege, die sich den Tag über recht widerspenstig ge­zeigt und ihm heute schon einmal davongelaufen war. Daher rührte auch seine Verspätung. Er hatte keine Lust, sich noch lange nach ihr umzusehen, dachte übrigens, sie sei schon zu Hause und trieb die Herde den schmalen Weg hinauf dem Städtchen Leuk zu. Als er bei den Ställen Nachfrage hielt, hiess es, die Ziege sei noch nicht da.

Das vernahm er nicht gerne, denn sie gehörte dem Gewalthaber, und der hatte sonst schon so viel über ihn zu brummen. Obschon es in die Nacht ging und der Hirt die Beine kaum mehr spürte vor Müdigkeit und sich gerne hinter die Suppe gesetzt hätte, die ihm die Mutter zu Hause bereithielt, machte er doch kehrt, eilte in langen Sätzen durch das Weingelände hinunter auf die Strasse, über die Flussbrücke und zurück in den Pfynwald, um die Ziege zu suchen.

Er rief und lockte, aber sie antwortete nicht. Er strengte sein Ohr an, um nach dem Klingen ihres Glöckchens zu horchen, allein, er ver­nahm nichts als das dumpfe Gemurmel des Illgrabenwassers, das als dünner Faden zwischen zwei haushohen Uferdämmen dahingurgelte. Immer weiter hinein ging es in den dunklen Föhrenwald und hinauf zum Illgraben, und wenn er Zi-i-irbi rief mit langezogener Stimme, klang es schauerlich durch den stillen Wald, so dass er sich fürchtete und das Rufen unterliess. Schon wollte er umkehren, aber da sah er in Gedanken den bösen Blick des Gewalthabers, der imstande war, ihm sein Hirtenamt zu entziehen, und so lief er weiter. Die Äste reckten ihm mit langen Armen ins Gesicht, aber das kümmerte ihn wenig. Wenn ein Nadelzweig kratzend über Wange und Nase fuhr, hob er den Stock und liess ihn auf den Ast niedersausen; das tat ihm gut, denn er hatte sich recht in den Zorn hineingelaufen.

Jetzt war er im Illgraben drin, und hier musste er das Zytgeissli finden, denn da gab es kein Weiter. Nur die Gemsen wagten es, an den lotrechten Wänden hinaufzuklettern, wenn sie den Jäger in der Nähe witterten. Da rief er nochmals mit aller Kraft Zi-i-irbi, fast mehr, um seiner Angst Luft zu machen, als der Ziege wegen. Vielfach hallte es von den Felsen wider, und er schaute sich nach allen Seiten um, ob nicht jemand hinter ihm stehe, so sehr bangte ihm in der finstern Schlucht.

Kein Laut war vernehmbar, doch ganz in der Nähe glaubte er ein Tor zu erkennen, mit festen Eisenbeschlägen, das er noch nie be­merkt hatte. Oder war es nur ein Schatten im Fels? Wieder schaute er sich um, und der Graben, in den er nun den dritten Sommer die Zie­gen trieb, erschien ihm ganz sonderbar in der stockdunkeln Nacht. Er war im Vonöischi, darüber konnte er nicht zweifeln, denn er sah deutlich, wie die Gratlinie des Grabens hoch oben, fast über seinem Kopf, sichelförmig in den Himmel schnitt, und er glaubte, das Pfei­fen einer Gemse zu hören. Er trat an die Pforte heran, und als er den Arm ausstreckte, um sie zu betasten, da flog sie auf, und ein heller Schein leuchtete ihm aus dem Innern des Berges entgegen. Er besann sich ein Weilchen, dann trat er über die Schwelle, tappte sich durch einen langen Gank, und auf einmal stand er in einem hell erleuchteten Saal. Der Boden war mit schneeweissen Marmorplatten belegt, und längs der Breitwand stand ein Kochherd von unermesslicher Ausdehnung. Hätte man die Feuerstellen aller Häuser und Hütten von Leuk zusammengerückt, ja da hätte noch viel gefehlt zu einer so langen Reihe. Vor dem Herde aber standen viele, viele Mägde in dunklen Schürzen, die mit den kupfernen Kesseln und Pfannen hantierten und das Feuer schürten. Das Geschirr funkelte im Widerchein der Gluten, und die Flammen flackerten und züngelten drin dass man hätte meinen können, ins Feuer selbst zu sehen. In den Pfannen brozelte es, und herrliche Wohlgerüche stiegen auf.

Der Geisshirt zog das Käpplein und grüsste freundlich. Da trat eine der Mägde auf ihn zu mit einem ernsten Gesicht und fragte barsch, was er begehre. Er sagte noch einmal recht freundlich und laut: «Abend gewünscht, grad so gut gefällt es mir hier, dass ich ein wenig bleiben möchte», und er schnalzte mit der Zunge, schnupperte und sog den würzigen Bratenduft ein, und sein Magen knurrte, dass ihm schien, es müssten es alle hören. Die Magd zog die Augenbrauen zusammen, dass die Stirne darin ganz verschwand und schob ihn mit einem bösen Blick gegen eine zweite Tür, die sich geräuschlos öffnete. Er setzte das Käpplein wieder auf den Kopf, fast ohne zu wissen, was er tat und trat ein.

Da war ein grosser, aber spärlich erhellter Saal, dessen Ende er nicht absehen konnte, mit einem spiegelblanken Boden. Die matte Helle rührte nicht von Kerzen und Fackeln her, sondern drang von unten herauf, und doch spürte er keine grosse Wärme an den nackten Füssen. Durch den Boden aber sah er wie durch Fensterglas, tief, tief hinein ins Innere der Erde, und je tiefer sein Blick hinunterdrang, desto heller und blendender wurde es, als ob er in die Sonne blickte, und die Augen schmerzten ihn, und er hob den Kopf. An einem langen Tische, der kein Ende nehmen wollte, sassen lauter schwarz gekleidete Herren, die emsig mit Schreiben und Rechnen beschäftigt waren. Sie hatten den Oberkörper tief über die Tischkante geneigt und schienen in ihre Arbeit versunken, so dass er kein Gesicht recht unterscheiden konnte. Längs der Wand aber standen, grad wie vorher der grosse Kochherd in der Küche, die schönsten Betten, die er je gesehen. Die Bettstellen schienen aus Messing zu bestehen, denn sie glänzten gelblich fahl, wie die Sonne, wenn sie ein dünner Wolkenschleier verdeckt, und statt des Laubsackes sah er weiche Feder­betten mit seidenen Decken, die mit Goldborden besetzt und mit wunderlichen Schnörkeln verziert waren. In dem Saale aber herrschte Totenstille.

Der Geissbub rückte das Käpplein und wünschte guten Abend. Da bewegte der Herr, der ihm zunächst sass, leise den Kopf und fragte, was er wünsche. Er sagte, er möchte nur ein wenig rasten und in einem solchen weichen Bette schlafen, denn er sei so müde. Da erhob der Herr das Gesicht, und der Bub erschrak. Aus dem erdfahlen, müden Antlitz starrten ihm zwei Augen entgegen; wo hatte er die schon gesehen? Grad so hatte sein Vetter, der reiche Weibel auf dem Totenbett ausgesehen. Eine unsagbare Angst sprach aus diesen flak­kernden Augensternen. Plötzlich zuckte es wie Wetterleuchten über das Gesicht und der Herr sprach: «Ja, greif nur unter die Decke, dann wirst du spüren, wie schön es drin zu schlafen ist!» Der Bub ging zu einem Bett und wollte die Hand hineinlegen, als eine andere Stimme vom Tisch ihm zurief: «Tu es lieber nicht, Quatemberkind!» Du bist ein armer, unschuldiger Geissbub, der das verlorene Zirbi sucht, tu es nicht, du würdest dir sonst die Finger verbrennen! - Steck einmal die Eisenspitze deines Stockes hinein! » Der Bub steckte den Stock unter die seidene Bettdecke. Als er ihn herauszog, war das Eisen glühend rot, und das Holz brannte lichterloh. Da fasste ihn der Schreck; er schrie laut auf, warf den Stock weg und floh zur Tür. Wohl trugen die Mägde die dampfenden Schüsseln auf, aber es gelüstete ihn nicht mehr nach den verlockend duftenden Speisen. Als er den weiten Raum der Küche, der kein Ende zu nehmen schien, ebenso eilig durchmass wie den Herrensaal, da hörte er, wie die Gold- und Silberschüsseln klirrten und klangen und wie ein viel­stimmiges Gebrüll und Gewieher anhub, so dass ihn schauderte, wie wenn er unter dem Gletscher stände und das kalte Wasser über ihn flösse.

Da war er auch schon draussen. Er spürte die kühle Nachtluft, und er lief und lief ohne Aufenthalt. Nach einer Weile schaute er zurück und sah nichts als eine schwarze Wand. Das war der Tannenwald, in dem es leise rauschte. Er glaubte wiederum den Pfiff einer Gemse zu hören. Ober ihm flimmerten die Sterne, und neben ihm trippelte das Zirbi, das fröhlich meckerte. Er atmete auf und kratzte sich in den verfilzten Haarstruppen. Die Ziege wich nicht von ihm, und so trotteten sie zusammen den Pfynwald hinunter. Er sprach mit ihr ganz leise, und sie meckerte ihm zu, ebenso leise, und die kleine Blechglocke, die sie am Halse trug, tönte hell durch die stille Nacht, bis sie im Stalle des Gewalthabers in Leuk oben verstummte.

Diese Nacht schlief der Geissbub weich auf seinem muffigen Laub­sack.

 

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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