In Puschlav trieben einst ein Vater und sein Sohn ihre Schafe auf die Weide. Diese Weide lag am Saume eines dichten Waldes. Während sie hüteten, kam zwischen den Tannen ein alter Bär hervor, welcher ohne Säumen die kleine Habe anfiel, um Eines der Schafe zu erobern. Die Männer, willens, ein Bündel Reisig auf den Abend zu rüsten, hatten ihre Äxte mitgenommen, und in Ermanglung anderer Waffen, ergriffen sie diese einzige Wehre, liefen dem Bären nach, und der Sohn versetzte dem Zotteltiere einen Hieb in die linke Schulter.
Aber kaum war das geschehen, rief der Sohn dem Vater zu: »aber Vater, das ist ja kein Bär, sondern meine Mutter!« Der Schrecken liess nun die Beiden an keine weitere Verfolgung denken, und der Bär zog heulend in das Dickicht sich zurück. Hatte der Sohn im Ungetüme seine eigene Mutter erkannt, vermochte dagegen der Vater kaum zur Besinnung zu kommen vor Zweifel und Erstaunen, denn dass seine eigene Frau eine Hexe sein solle, wollte ihm nicht in den Sinn, weshalb er auf dem Heimwege fortwährend mit dem Jungen spektakulierte.
Zu Hause trafen sie die Mutter an, aber - im Bette liegend, und an der linken Schulter schwer verwundet. Wie sie Vater und Sohn näher kommen sah, stiess sie ein grässliches Geheule aus. Nun erkannte der Vater, dass der Junge Recht hatte. Ohne weitere Umstände zu machen, ergriff der Mann einen »Knebel« (Knüttel) und schlug erbarmungslos seine Frau weich.Diese schrie laut auf, vor Schmerz. - Aber das Hexen liess sie auch in Zukunft nicht.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.