In St. Antönien lebte vor Zeiten ein altes Weib, das allgemein als Hexe verschrien und erkannt war. Ganz alleine bewohnte sie ein kleines Häuschen, und mied den Umgang mit andern Menschenkindern, weshalb Jedermann scheu ihre Nähe mied. Dass sie Abends Türe und Fensterladen fest verschloss, und Morgens wieder öffnete, dass sie dann und wann durch die kleinen, unsauberen, bleigefassten Fensterscheiben in seltsamer Handtierung oder halb versteckt auf dem Laubengange ihres Häuschens zu sehen war, unstät und bald wieder verschwindend, waren fast die einzigen Lebenszeichen, welche von ihrer Existenz Zeugnis gaben.
Von den Wirkungen ihrer teuflischen Künste aber wusste man Vieles zu erzählen: Da hatte sie eine Kuh behext, dass diese bei vollem Euter keine Milch mehr gab. Dort einem Kinde es angetan, dass weder Segen-Sprechen, noch Aderlass, noch Medizin mehr helfen mochten, und es elendiglich sterben musste. So hatte sie schon mehrmals unzeitige Kälte gemacht, oder schrecklichen Wirbelwind erzeugt, der den Leuten den sorgfältig gestellten oder gelegten Hanf zerzauste und durcheinander warf. Auch war sie bei nächtlicher Beschwörung am Saume des Waldes, oder oben in den Bergwiesen, wo die Kreislinien des dunkleren Grases deutlich noch heute den Hexen-Platz bezeichnen, tanzend gesehen worden. - Eines Tages blieben Türe und Fensterladen verschlossen, und es wusste das »ganze Dorf« diese grosse Neuigkeit. Als aber auch am folgenden Tage die Türe sich nicht öffnete, und von der Alten nichts zu sehen war, zweifelte Niemand mehr, die Hexe sei gestorben. Aber Jedes fürchtete sich, nachzusehen, - und so liess man sie tot sein, wie sie wollte. - Aber Alle Die, welche am Häuschen vorbeigehen mussten, »besegneten« sich, oder machten lieber einen grossen Umweg. -
Einige Tage nachdem die Alte nicht mehr sichtbar geworden, sassen an einem Abende drei »Knaben« (Burschen) beisammen, und besprachen natürlich auch das seltsame Ereignis. Jeder wollte das Meiste wissen von dem argen Wesen der Alten, ihren bösen Blicken, und ihren höllischen Zauberkünsten, so dass Jeder zuletzt das Gesagte oder Vernommene selber glaubte. Doch Einer von ihnen schüttelte am Ende den Kamm, und sagte, um eine »Zeit-Geis« gehe er, und zwar noch denselben Abend, in das Häuschen, um zu schauen, was aus der Alten geworden sei. - Die andern Zwei gingen die Wette ein, lachten ihn aber aus.
Er nahm ein Kind unter zwei Jahren, einen lebendigen Hahn und eine Laterne mit brennender Kerze mit sich (denn diese drei Dinge sollen gut sein gegen die bösen Einwirkungen einer Hexe), und so machte er sich auf den Weg nach dem Häuschen. Es war »stichdunkel« und es gruselte ihm doch ziemlich, als er die Haustüre der Alten aufbrach, und das Kind führend, Hahn und Laterne tragend, in den Gang trat. - Kein Laut liess sich vernehmen, überall herrschte Todesstille. Er öffnete die Stubentüre, in der Stube fand er nichts, durchsuchte Küche und Kammer, fand aber wiederum nichts. Auch auf dem oberen Boden konnte er nicht das Geringste entdecken. - Endlich - auf der Laube - lag das alte Weib, war aber grausenhaft anzuschauen.
Er bebte zurück, hielt das Kind fester, und drückte den Hahn unwillkürlich, so dass Derselbe einen Schrei liess. Nun hatte er die Alte gesehen, auf dem Boden liegend, und kehrte sich um, den Heimweg anzutreten, und aus dem unheimlichen Häuschen wegzukommen. - Aber, wie er sich gekehrt hatte, hatte auch die Alte sich erhoben, durch den Hahnen-Schrei wieder ins Leben gerufen. Sie folgte dem Fliehenden bis zur Haustüre. - Dort legte sie ihm ihre Hand zentnerschwer auf die rechte Schulter, beugte sich ihm über die linke Seite vor, grinste ihn an, höhnisch lächelnd, und murmelte mit einer Stimme, die wie aus einer andern Welt klang:
»Hättest Du nit Muass-Ratza,
Hättist Du nit Hahna-Chratza,
Hättist Du nit Fürli heiss,
So wett' i Dir ge' a türi Zit-Geis.« -
(»Hättest Du nicht ein noch Muss-essendes Kind bei Dir, Hättest Du nicht einen Hahn bei Dir, Brennte nicht das Licht daneben, Wahrlich, eine teure Geis [Ziege] wollt' ich Dir geben.«) –
Halb bewusstlos schwankte der Bursche nach Hause, und legte, von schwerem Fieberfroste erfasst, sich zu Bette. Es war sein Sterbe-Bette, denn nach einigen Tagen rafften die Folgen des Fiebers ihn hin. -
Wie diese traurige Geschichte landauf, landab bekannt wurde, fürchtete Jedes umso mehr, in die Nähe des verrufenen Häuschens zu kommen. Niemand getraute sich, Dasselbe zu betreten; so vermoderte die Alte, die noch immer auf der Laube lag, und so zerfiel nach und nach das Häuschen in einen Stein- und Trümmerhaufen.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.