Im Schlosse zu Cernez war vor Zeiten eine Schaffnerin, welche das volle Vertrauen der ritterlichen Herrschaft genoss. Sie war mit der Aufsicht über das ganze Hauswesen betraut, ihr waren die Schlüssel über alle Gemächer übergeben, sie befehligte sämtliches Gesinde, und verwaltete den Einkauf und Verbrauch der Lebensmittel. Aber sie missbrauchte das von der Herrschaft ihr geschenkte Zutrauen. Mit List und Gewandtheit wusste sie ihre Vergehen zu decken, und jeden Verdacht ferne zu halten. - Es kam ihr nichts aus.
Nach Jahr und Tag rückte der Knochenmann, der Niemand eine Ausnahme gestattet, auch an die Verwalterin heran, und sie ging mit ihm den Weg des Fleisches. - Dem Anscheine nach war ihr Wandel unsträflich gewesen, und sie wurde in Ehren begraben. Aber bald nach ihrem Tode sollen die Mägde im Schlosse nächtlicher Weile ein seltsames Geklirre und geisterhaftes Poltern gehört haben, und Eine nach der Andern erzählte das der Herrschaft. Diese bestellte Wächter, aufzupassen und zu untersuchen, was an der Sache sei, und wie gross war ihr Erstaunen, als man ihr des andern Tages meldete, die Verwalterin selber, die vor Kurzem gestorben, sei erschienen, mit einem Bunde Schlüssel in der Hand, und habe dann im ganzen Schlosse ihr Unwesen getrieben.
Erst jetzt erkannte man, dass die Verwalterin untreu gewesen, und dass sie das ihr geschenkte Zutrauen höchlich missbraucht haben müsse. Nun ward Rat gehalten, auf welche Weise man des leidigen Gastes, und der Störerin der nächtlichen Ruhe sich entledigen könne; und es wurde schliesslich ein Geisterbanner herbeigerufen, welcher dann die arme Ungetreue vom Schlosse entfernte, und weit weg, in das einsame Tälchen Nüglia bannte. Es ist dies eine kleine Schafalpe, der Gemeinde Valcava gehörig, und liegt hoch oben auf dem Gebirge des wilden Buffalora. Dort treibt seit langen Jahren jene Unglückselige ihr Wesen bei Nacht, zuweilen auch bei Tage, bei eintretender Witterungsänderung, rasselt mit dem Bunde Schlüssel, den sie beständig in der Hand hält, und bringt oft Furcht und Schrecken über die Schafherden, noch weit öfter über die Hirten.
Auch erlaubt sie sich zuweilen einen Spaziergang bis auf die Strasse hinunter, die über den Ofenpass nach dem Münstertale führt, zeigt sich hie und da dem einsamen Wanderer, weist ihm den Bund Schlüssel, und deutet auf diese Weise ihm an, dass sie ungetreu verwaltet habe, nun aber dafür büssen müsse.
Noch vor wenig Jahren will ein junger Mann, und zwar bei Tage, sogar in der Nähe des Wirtshauses auf dem Passe sie gesehen haben.
Der Sage nach, ist ihr Aussehen menschlich, blos fehlt ihrem fahlen, geisterhaften Gesichte die Nase. - Wenn sie auch nur wenigen, und meistens nur Hirten oder einsam Wandernden das nicht gerade beneidenswerte Vergnügen ihrer Begegnung verschafft, so ist sie doch bei Jedem, der in der Nähe des Buffalora sich aufhält, im Münstertale sowohl, als auch im Engadine ihrem beigelegten Namen nach bekannt: »la Duonna di Valnüglia.«
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.