Auf der Süd-Seite des Madriser-Hornes dehnt die Saaser-Alpe mit ihren schönen Triften sich aus. Sie ist wohl des Prätigaus beste Alpe und sucht Ihresgleichen im Bündnerlande, ausgenommen Camana in Savien.
Vor vielen Jahren aber war sie noch nicht so ergiebig und so gut bestellt wie in unseren Tagen, und es war durchaus nichts Angenehmes, dort zu hüten, und zu weiden, denn unzählige Schlangen hausten auf den sonnigen Halden. In unheimlichen Ringen, giftgeschwollen sich blähend, bedeckten sie grosse Strecken der besten Weideflächen.
Eines Abends kam ein kleines, fremdes Männchen nach Saas. Es war ein »fahrender Schüler.« Seine grauen Augen schon, die unter buschigen Brauen hervorblinzelten, verrieten, dass er weiter als »fünfe« zählen könne.
Eben war von der Alpe herab der Bericht gekommen, dass die »Heer-Kuh« (beste Kuh in der Alpe) vom giftigen Gewürme getötet worden sei. Das Männlein liess Näheres über die Schlangen sich mitteilen, und erbot sich dann, Dieselben zu bannen, nachdem man ihm die Versicherung gegeben, dort oben nie weisse Schlangen gesehen zu haben; denn Solche schien selbst das Männchen zu fürchten.
Man führte ihn in die Alpe. Dort machte er mittelst Reisig und Heidekraut drei grosse Haufen, legte dann einige Handvoll gewisser Kräuter und Wurzeln dazu, und zündete hierauf diese Haufen an. Dann zog er sein Käpplein ab, nahm ein silbernes Pfeifchen aus der Tasche, und fing an, zu pfeifen, indes er unter seltsamen Gebärden um die drei Haufen herumging. Es dauerte gar nicht lange, so krochen von allen Seiten, vielfach zu Knäueln vereint, unheimlich zischend die giftigen Schlangen herbei, und stürzten sich allsamrnt ins Feuer, wo sie unter erschrecklichem Gewimsel und grauenerregendem Ringeln und Wiederemporschnellen, verkohlten.
Schon freute das Männlein sich des Gelingens, aber, - o Schrecken! unter schauerlichem Gezische, Feuer aus den Augen sprühend und Gift speiend, rollten drei mächtige weisse Schlangen mit goldglänzenden Kronen herbei. Bei ihrem Anblicke stiess das Männlein einen entsetzlichen Angstschrei aus und lief, so schnell als seine Beine ihn trugen, gegen Osten hin. Aber die weissen Ungeheuer folgten ihm in rasender Eile, in grässlichen Windungen der sichern Spur folgend, um wegen dem Tode ihrer Schwestern Rache zu üben an dem Männlein. Eben wollte dieses Letztere einen kleinen Bach überspringen, als es von den giftigen Würmern erreicht wurde. Es half ihm nichts, dass er unter furchtbaren Schreckensrufen suchte, davon loszuwerden. In blitzschnellen Windungen hatten sie seinen Leib umfasst, und das Herz ihm herausgerissen.
Der entsetzlichen Schreie wegen, die das unglückliche Männchen dort ausgestossen, heisst jener Bach bis auf den heutigen Tag der »Schreier-Bach«. Die Schlangen sind von dieser Zeit an auf der Saaser-Alpe diesseits des Schreier-Baches ganz verschwunden.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.