Eine Zeit lange gewahrte man jährlich unbekannte Italiener in Bettler-Kleidern in der Casanna-Alpe umherstreifen. Ein Solcher wurde öftermalen beobachtet, und verschiedentlich ausgefragt, aber man brachte kein Wort aus ihm heraus. Sowohl bei dem weidenden Viehe, als auch an andern Orten im Gebirge war er anzutreffen. - Was er tat, wovon er sich nährte, war den Hirten Allen ein Rätsel. -
Nun ging einmal ein Hirte, welcher auch einen solchen Italiener gesehen, zur Zeit er auf Casanna hütete, und mit Demselben Händel hatte, weil der Fremde dem Viehe zu nahe stand, und er (der Hirte) befürchtete, er könnte dem Viehe etwas Böses antun, - dessen Gestalt er immer im Gedächtnisse behielt, - mit Vieh in' s Venezianische. Auf dem Markte wurde er von einem vornehmen Herrn erkannt, angeredet, und nach kurzer Unterredung von Demselben eingeladen, in sein Haus zu kommen. Im Gespräche fragte der Herr den Hirten, ob er ihn nicht mehr kenne, und ob er nicht Der sei, der in der Casanna-Alpe einen Bettler »gewixt« (geschlagen) habe, in der Meinung, er tue dem Vieh etwas Böses an. - Dieser Bettler sei er selber gewesen.
Der Hirte bekannte, dass er es gewesen sei, hatte aber grosse Angst, vermeinend, der Herr werde ihn jetzt für seine Gewalttat strafen, und stand ganz »vertattert« (erschrocken, ängstlich) da. Der Herr aber lächelte, machte ihm wieder Mut, und ladete ihn ein, so lange bei ihm zu bleiben, als er nur wolle; zeigte ihm seinen Palast, seine Reichtümer, und sagte: »Das Alles habe ich aus Casanna-Gold genommen.« Beim Abschiede gab der Herr ihm noch ein sehr schönes Geschenk.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.