Unterhalb vom »Stafel« der Alpe Drusen steht ein grosser Stein, und von Stafel und Stein geht eine schauerliche Sage:
In dieser Alpe Drusen waren einmal ein Paar mutwillige Knecht und ein ruchloser Senne. Die hatten wenig zu schaffen, und Einer von ihnen fiel im Übermute auf den frevelhaften Gedanken, von »Blätzen« (Überreste abgetragener Kleider) eine Puppe zu machen, lebensgross und menschenähnlich. Sie legten dieser Puppe eine »Juppe« (Unter-Rock) an, mit kurzem »Gstältli« (Leibchen), ein »Tschööpli« (Oberteil eines Frauen-Rockes) mit »Züllii« (Schnürbändel) und »Häftli« (kleine Kleiderhaften), ein Paar Schuhe mit »Ringgen« (Schnallen) und auf den Kopf ein »Flor-Bödeli« mit »Chrüseli« (weibliche Kopfbedeckung mit Fransen und Spitzen).
Die so angekleidete Puppe wurde von den Alpknechten herumgetragen, auf eine Bank gesetzt, und ihr Muss und Rahm angestrichen, dann Fragen lästerlicher Art an sie gestellt, ausgelacht, gehätschelt u.A.m. - bis der Senn noch auf den gottlosen Gedanken kam, die Puppe sogar zu taufen. Mit »Plümpen« (grösste Sorte Glocken, die den Kühen angehängt worden) wurde zu dieser »Taufe« geläutet, auf einen Scheiterstock wurde eine »Gebse« (flaches Milchgeschirr von Holz) gestellt (das waren Taufstein und Taufbecken). Die Sennen waren die »Götteti« (Paten) und der Senn selber, der »Pfarrer«, der die sündhafte Taufhandlung vollzog.
Eben waren sie damit beschäftigt, an der Puppe die Taufe zu vollziehen, als ein armes, altes Weib in die Hütte trat, und um eine Gabe bat. »Wir haben schon eine Alte, die wir füttern müssen,« war die Antwort des herzlosen Sennen. »Die soll essen.« -
»Ich gehe,« rief das Weib, »aber die da soll essen, und fressen.«
»Ja, essen und fressen soll sie,« rief der Senn höhnisch dem Weibe entgegen, und strich mit diesen Worten der Puppe einen Löffel Rahm ins Maul.
Da ereignete sich ein grauenhaftes Wunder: - »im Augenblicke, als der Ruchlose, in den drei höchsten Namen, die Puppe mit Wasser begoss, schlug diese - die Augen auf, und fing an zu reden.«
» Ja, essen und fressen, essen und fressen will ich«, rief sie.
Und schrecklich starrete sie den Senn und die Knechte mit grässlich leuchtenden Augen an.
Dann herrschte sie weiter: »Machet, dass Ihr so schnell als möglich mit Vieh und Habe fortkommt, der Senn aber muss hier bleiben. Und lasset Euch nicht gelüsten, zurückzuschauen, bis ihr über das dritte Tobel gekommen seid.« - Der entsetzlichen Puppe Wille wurde erfüllt, - der Senne blieb zurück. Die Knechte, voll Angst vor dem Ungeheuer, hielten die Warnung.
Als sie aber vom dritten Tobel aus nach dem Stafel zurückschauten, breitete die Puppe eben die Haut des Sennen auf dem grossen Steine beim Stafel aus, welche sie dem Frevler bei lebendigem Leibe abgezogen hatte.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.