Ein armer Mann im Münstertale hütete einstens das Vieh in den Alpen. Seine Frau und das siebenjährige Söhnlein blieben zu Hause. Die Frau ging auf Taglöhne. Das Haus, in welchem sie mietsweise wohnten, war nach alter Weise gebaut, mit einem grossen Gewölbe unter dem Dache. Das Knäblein schlief in einem Bette mit der Mutter.
Eines Nachts weckte es seine Mutter, und sagte zu ihr, sie solle mit ihm beten, es sei ein Mann in weissen Kleidern zu ihm gekommen, und habe gesagt, sie sollen beten und dann aus dem Hause gehen, denn das Haus werde bald einfallen. Die Frau, aus dem besten Schlafe erwacht, vermeinte, der Knabe habe geträumt, oder fantasiere, und befahl ihm stille zu sein; worauf sie wieder einschief.
Aber in einer Weile weckte der Knabe abermals sie, der schöne, weisse Mann habe wieder mit ihm geredet, es sei jetzt Zeit, dass sie aufstehen, und aus dem Hause fliehen, denn das Haus werde bald einfallen. Die Mutter wurde unwillig, befahl ihm wieder zu schweigen, und schlief abermals ein.
Wieder nach einer Weile sprang das Knäblein aus dem Bette, zog die Mutter am Arme, und bat die Mutter dringlich, sie solle eilen, denn der weisse Mann habe zum Fenster herein geredet, und gesagt, es sei nunmehr die höchste Zeit zu fliehen. Auf dies hin stand die Mutter ohne Verzug auf, und wollte sich ankleiden. Aber der Knabe zog sie beständig am Arme, und drängte, es sei keine Zeit mehr dazu, der weisse Mann habe es ihm gesagt. Die Mutter folgte den Worten des Knaben, nahm die Kleider unter den Arm, und so eilten Beide die Treppe hinab, die Haustüre hinaus.
Kaum hatten sie jedoch die Haustüre hinter sich, siehe, - da fiel das hohe Gewölbe ein, und zertrümmerte alle unterhalb liegenden Böden und Zimmer des alten Hauses, bis auf den Grund.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.