Müde von der Jagd, und von der Nacht überfallen, suchte ein Jäger mit einer erlegten Gemse in der Hütte der Alpe Ober-Novai Schutz vor dem herannahenden, grausen Unwetter. Es war Spätherbst, und die Hirten längst schon von Alpe gezogen. In der Hütte machte er Feuer an, und nahm von dem mitgenommenen Vorrate Speise und Trank zu sich, legte sich dann auf die »Pritsche«. und seinen Stutzer neben sich.
Er mochte eine gute Weile geschlafen haben, so hörte er die Kellertüre aufgehen, und gewahrte nun drei grosse Männer in Alpkleidern und »Böden-Schuhen« (Holz-Schuhen) aus dem Keller heraufkommen. Die Drei setzten sich auf Melkstühle um das Feuer herum, stopften die Tabakspfeifen, und zündeten sie an. » Wenn es Allen brennt, so gehen wir,« sagte der Eine; »wenn die Pfeifen leer sind, so singen wir,« erwiderte der Zweite; »wenn wir singen, so kommen sie,« fügte der Dritte hinzu.
Nun brannte bei Allen der Tabak. Sie nahmen drei Melk-Eimer, und gingen vor die Hüttentüre hinaus. Nach einer Weile waren ihre Pfeifen leer geworden, und sie sangen dreistimmig mit wehmütiger, kläglicher Stimme einen wohlbekannten Psalm. Wie sie eine Zeitlang gesungen hatten, hörte der Jäger auch von weiter her singen, und eben denselben Psalm. - Das Singen kam immer näher, bis den Jäger däuchte, es sei eine grosse Gesellschaft vor der Hütte versammelt, immer und immer den gleichen Psalm singend. Wieder nach einer Weile, so um Mitternacht, zog das Volk langsam weiter, immer singend, bis der letzte Ton in der Ferne verhallte.
Am Morgen fand der Jäger Alles genau so, wie er am Abende zuvor es angetroffen hatte, und alle Holzgeschirre sauber und blank, an Ort und Stelle. Er hatte den Gesang des Totenvolkes gehört.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.