Gott, der Herr, hatte die Welt längst erschaffen, mit Allem, was auf ihr ist. Alle Weltteile waren schon stellenweise mit Menschen bevölkert, aber es fehlte ihnen, zur Vollkommenheit, noch die Sprache, und der Schöpfer beschloss, dadurch, dass er ihnen die Sprache gebe, seinem Ebenbilde ähnlich sie zu machen. Doch sah er in seiner Weisheit ein, dass es besser sei, wenn nicht alle Menschen dieselbe Sprache haben. Und so dachte er die verschiedenen Sprachen der Welt sich aus, und gab jeder derselben verschiedenen Charakter.
Dann befahl er dem Logos, einem der schönsten Engel, den Samen der verschiedenen Sprachblumen, die er ebenfalls geschaffen, gesöndert zu sammeln und in aparte Säcke zu tun. Der Logos erfüllte des Herrn Geheiss, sönderte die Samen der verschiedenen Sprachblumen in besondere Säcke, nahm dann je eine Partie verwandter Sorten, flog damit über einen, ihm bezeichneten Teil des Erdkreises, und schüttete den Sprachsamen auf die Köpfe der armen, stummen Menschen, und dieser Same fasste Boden, trieb seine Keime durch die Schädel in\'s Gehirne, und entwickelte in demselben jene Knollen, aus denen die herrlichsten Sprachschöpfungen sich entfalteten.
Logos hatte schon alle Sprach-Säcke geleert, und wollte eben, durch\'s Paradies hindurch, zum Schöpfer zurückfliegen, um ihm Rechenschaft über Vollziehung seines heiligen Willens zu geben. Da gewahrte er noch ein schönes Alpenland, das er in seinem Diensteifer ganz übersehen, und dessen Bewohner allein noch keine Sprache hatten. Aber seine Sprachsäcke waren leider leer, und er klagte dem Schöpfer sein Versehen, und wie nun die armen Menschen in dem Wirrwarr von Bergen und Tälern keine Sprache hätten, weil sein Vorrat an Sprachsamen zur Neige sei.
Der Schöpfer gab dem Logos einen verdienten Verweis wegen seiner Unachtsamkeit, indem das Sprachen-Schaffen keine Sache sei, die er nur so aus dem Ärmel schütteln könne. Zudem habe er jetzt Sabbat-Ruhe, die er als ein ewiges Gesetz, welches er selbst sich gegeben, der Handvoll Menschen in jenem Alpenlande wegen, zu brechen, nicht sich entschliessen könne. Es sei nur ein Mittel, den Bewohnern in den rätischen Alpen drunten zu helfen: »Nimm, sagte er zum Logos, die geleerten Säcke, und suche nach, in welchem von Diesen deine Unachtsamkeit etwa noch einen Rest des Sprach-Samens zurückgelassen hat, durchsuche namentlich die Säcke mit dem indogermanischen Blumensamen, den Keltensack, den Germanen- und den Romanen-Sack, und schütte das, in den Zipfeln dieser Säcke noch versteckt gebliebene Gesäme in einen Sack, fliege damit hinunter über das Quellengebiet des Rheines, des Inn und der Moesa und streue das wenige, in den Zipfeln der Säcke zurückgebliebene Gesäme über die Köpfe der armen Verlassenen in den rätischen Alpen.«
Der Logos tat, wie der Herr ihm befahl. Und daraus ist das bunte Sprach-Gemisch in Graubünden zu erklären. -
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014