Wo in der Roffla mit dem Rhein
Der Waldbach sich vereinet,
Zieht rechts sich in's Gebirg hinein
Ein Alptal, wild und steinicht.
Dort lagen schon vor alter Zeit
Getrennt, und etlich Stunden weit
Entfernt, drei kleine Dörfchen.
Im höchsten wohnt' ein Mann, den weit
Und breit im Tal man kannte,
Und wegen seiner Eigenheit
Den »närr'schen Michel« nannte.
Doch gab Der oft so weisen Rat,
Dass für den Klügsten in der Tat
Man ihn hätt' halten mögen.
So, unter Ander'm, sagt' er auch
Einmal, es wär' gescheiter,
Man schlüg' das Holz zu vielem Brauch
Talabwärts etwas weiter;
Weil, wenn's mit Holzen so fortgeht,
Man endlich in des Dorfes Näh'
Daran möcht' Mangel leiden. –
Da brach's in der Gemeinde aus
Mit Spotten, Schimpfen, Fluchen:
»Heisst uns der Narr, was vor dem Haus
Wächst, Stunden weiter suchen!
Man sollte, dass er sicher weiss,
Ob Holz da ist, ihm den Beweis
Mit guten Prügeln geben.«
»Was«, sprach er, »wir jetzt haben, kann
So gut als Ihr ich sehen;
Doch für die Enkel möcht' es dann
Um's Holz schon anders stehen.
Und in was Jahren glaub' ich fast,
Schlägt man mit hier gewachs'nem Ast
Sich nicht mehr grosse Beulen.
Denn unser Missbrauch treibt's so weit,
Dass einst nach vielen Winden,
Wohin wir sehen, weit und breit,
Kein Stamm wird sein zu finden.
Und dass, hat Einer etwa just
Zu einem birkenen Besen Lust,
Zwei Stund' er d'rum muss laufen.«
Als purer Unsinn klang das Wort
In der Verstockten Ohren;
Im ganzen Tal schalt man sofort
Den Michel einen Thoren.
Und so wie nachher Jemand was
Erzdummes sagte, hiess es: »Das
Gehört zu Michels Besen.« -
Doch waren noch nicht hundert Jahr\'
Vorbei, ward's schon empfunden,
Wie jener närr'sche Michel wahr
Gesprochen, - denn verschwunden
War bald der letzte Tannenbaum
Und einer Birke mochte kaum
Der ält'ste Mann sich denken. –
Und heut', wo Michel glaubt' ein Mal,
Es werden Birken kaufen
Die Enkel, ist's an Holz so kahl
Wie oben, und zu laufen
Trifft's noch von dort das Tal hinab
Wohl eine Stund' in gutem Trab,
Will man nur Tannen finden. –
D\'rum was als Wunder dazumal,
Von Unsinn jene Väter
Erzählten, ward im gleichen Tal
Nur ein Jahrhundert später
Von Kind und Kindeskinder hin
Berichtet als von klugem Sinn
Und Weisheit hohes Wunder. –
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.