Siehst du den Turm im Abendstrahl,
Auf hohen Felsen dort?
Das war die Feste Guardavall,
In grauer Zeit des Landes Qual,
Voll Tyrannei und Mord. –
Du, Wandrer, der die Strasse ziehst,
Steh still und blick empor;
Steh still, und hör im ernsten Lied
Wie diesen Mauern, zornentglüht,
Das Volk Verderben schwor. –
Einst ging auf diesem Felsennest
Ein Ritter aus und ein;
Ihn floh der Landmann wie die Pest,
Dem Schurken war kein Schloss zu fest,
Kein Heiligtum zu rein. –
Der sah einmal von seinem Turm
Ein Mägdlein, zart und jung;
Da regt sich der Begierde Wurm
Und seines Herzens wilder Sturm
Erheischt Befriedigung. –
Und zu des Mägdleins Vater sandt
Er seiner Knechte Schaar;
Die drohten wild mit Mord und Brand,
Und forderten von dessen Hand,
Was ihm am liebsten war. –
Und Adam hört es unverzagt,
Es blitzt sein Auge kühn;
Doch mässigt er sich klug und sagt:
»Ich bringe, wenn der Morgen tagt,
Das Mägdlein selber hin.« -
Kaum sind die Henkersknechte fern,
Stürmt er von Haus zu Haus:
»Sind wir denn Hunde dieses Herrn?
Ein Hund trägt solche Schande gern!«
So ruft er wütend aus. –
Kaum wird im Dorf die Sache kund,
So lodert Aller Wut,
Und Jeder schwur mit Hand und Mund:
»Er soll es büssen, dieser Hund!
Wir wagen Gut und Blut.« -
Und Morgens früh, im Dämmerschein,
Ertönts im Tale laut;
Und froh herauf von Madulein
Führt Adam nun sein Töchterlein,
Geschmückt wie eine Braut. –
Und ihnen wallte wohlgemut
Ein Brautgefolge nach;
Das murmelt leis von Rach und Blut,
Von Tyrannei und Übermut
Und von erlittner Schmach. –
Von Oben sah mit Henkerslust
Der Bösewicht den Zug;
Es pochte seine geile Brust,
Und, Seiner selbst sich unbewusst,
Eilt er hinab, im Flug. –
Und nahte sich dem holden Kind,
Mit bösem, wüstem Scherz;
Jetzt packte, wie ein Wirbelwind,
Nun Adam ihn und stiess geschwind
Den Dolch ins schwarze Herz.
Da krümmt er heulend sich am Stahl,
Da strömt sein Blut hervor.
Er sinkt, - und sein Guardavall, -
Erst noch ein Schrecken für das Tal –
Flammt lichterloh empor. –
Und jubelnd ziehn die Sieger nun
Hinab, ins freie Tal.
Jetzt dürfen sie im Frieden ruhn,
Kein Vogt wird ferner Böses tun:
Denn tot ist Guardavall. –
Siehst du den Turm im Abendstrahl,
Hoch überrn Tannenkranz?
Das war die Feste Guardavall,
Sie fiel durch unsrer Väter Stahl
Mit allem ihrem Glanz. -
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.