Der letzte Herr auf Greifenstein

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Vor einigen hundert Jahren wohnte im Schlosse Greifenstein ein arger Raubritter, der die sorglosen Reisenden auf der Strasse anfiel und plünderte; manchmal schleppte er sie, wenn er glaubte, besondern Fang gemacht zu haben, gefangen mit sich und liess sie nur gegen schweres Lösegeld wieder frei. Selbst geistliches Gut war vor seinen räuberischen Händen nicht sicher.

Den edeln Rittern des Landes gefiel das Raubwesen des Greifensteiners gar nicht, und besonders war es der Freiherr von Ehrenfels, der zuweilen ihm den Weg verlegte und den Raub ihm abnahm, um diesen den Geplün­derten zurück zu geben. Darum schwörte der Buschklepper dem wackern Ritter den Tod.

Eines Tages jagte der Edle von Ehrenfels in den Wäldern von Villasur (Filisur): bei ihm war sein einziger Sohn. Im Jagdeifer drangen sie vor bis an den Jenisberg, welcher dem von Greifenstein zugehörte. - Wie sie so an den Felsen und zwischen den Gebüschen herumkletterten, - sauste plötzlich ein Pfeil daher - und - lautlos brach der alte Freiherr zusammen; der Bolzen steckte in der Stirn. Der Vater rollte leblos vor des Sohnes Augen in den gähnenden Abgrund hinunter. - Der junge Freiherr blickte zornsprühend dahin, wo das tödliche Geschoss hergekommen war, aber er erschaute Nichts als einen Lämmergeier, der in weiten Kreisen sein Nest am Felsen umschwebte. Da legt er rasch ins Gebüsche sich nieder, stiess mit dem Fuss einen faulen Baumstamm in die Tiefe, dass er, laut krachend, von Klippe zu Klippe kollerte und erhob zu­gleich ein angstvolles Geschrei, als stürze er hinunter, indes er - seinen Bogen spannte.

Jetzt trat der Räuber von Greifenstein aus dem Gebüsche hervor: »Ha«, rief er, »auch die junge Brut ist scheints in des Satans Rachen gefahren! Wahrhaftig« .... - er wollte weiter spotten - aber der junge Ehrenfelser hatte zu rechter Zeit den Pfeil abgesendet. Mit grässlichem Gebrülle sank der Ruchlose in den tiefen Abgrund und sein Körper zerschellte an den scharfen Felsenzacken. -

Sein Geist hat fürder keine Ruhe. - In nächtlichen Stunden hören Hirten und Jäger sein schreckliches Ächzen und sehen im Mondscheine die trübe Gestalt, wie sie gespenstig Schluchten durchzieht und das Gebirge durchschreitet, den glühenden Bogen schwingend.

Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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