Die Herren, die auf den Burgen bei Süs wohnten, machten sich Nichts daraus, die Durchreisenden anzuhalten und auszuplündern, oder den ruhigen Landmann in ihrer Nähe zu drücken, zu plagen und dann das Geraubte in Saus und Braus zu verprassen. Besonders soll der Letzte von diesen Herren, der von Castlins, gegen das Volk, das um ihn herum wohnte, hart und unbarmherzig gewesen sein.
Als nun das Feuer der Freiheit, das lange Zeit unter der Asche glimmte, in hellen Flammen aufloderte, wurden auch die Männer des Unter-Engadins von ihm ergriffen, und die Einwohner von Süs, der Plackereien müde, verbanden sich mit ihren Nachbarn und beschlossen, Denselben ein Ende zu machen. Eines Morgens wurde der Herr auf Castlins durch wilden Kriegslärm und Waffengeklirr aus seinem tiefen Schlafe aufgeschreckt. Als er ans Fenster trat, erblickte er eine Menge Bewaffneter, die seine Wohnung belagerten und seinen Tod verlangten. Zu entfliehen war ihm unmöglich, um Hülfe rufen unnütz, denn der Harte und Unbarmherzige kann niemals vieler Freunde sich rühmen. - Er musste kapitulieren, und es gelang ihm, Leben und freien Abzug zu erhalten, sogar durfte Jedes der Seinigen mitnehmen, so viel es tragen mochte. Der Ritter aber traute dem Volke nicht und bereitete eine nächtliche Flucht vor, wobei er, um der Verfolgung zu entgehen, seine Pferde verkehrt beschlagen liess. Möglich, dass der Hufschmied sie verriet, kurz, das Volk erhielt Kunde von des Herrn Vorhaben und erachtete es nicht für nötig, sein gegebenes Wort weiter zu halten.
Der Ritter verliess die Burg und setzte über den Inn, sein Gefolge hinter sich. In der Nähe der Crap Sasslatsch stiegen sie ans andere Ufer und wollten weiter ziehen, talabwärts, wurden aber von einer im Hinterhalt liegenden Schaar bewaffneter Bauern aufgehalten, ergriffen und erschlagen.
Ein Einziger von Ihnen, Namens Martin, entkam. Noch jetzt wird die Stelle gezeigt, wo diese Tat geschehen und seitdem sollen keine Singvögel um diesen Ort herum nisten oder lange dort sich aufhalten, während ringsum Wald und Flur von dem Gesange der Vögel ertönen.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.