In der Burg Bernegg lebte vor vielen hundert Jahren, als der Letzte seines Stammes, ein roher, hartherziger Ritter, der an Allen, die dort vorbei mussten, seine Tücke übte. So kam auch einst ein in der Heilkunst erfahrener Bernhardiner-Mönch des Weges, der nach dem Schlosse Summerau wollte, um die dort krank liegende Edelfrau zu pflegen. Es war Abend geworden und schon begann dunkele Nacht herein zu brechen. - Der Ritter versprach, gleissnerisch zuvorkommend, dem Geistlichen das Geleite durch das gefährliche» Tiefe-Tobel« zu geben, das zwischen dem Schlosse Bernegg und dem benachbarten Castiel sich hinzieht. Hocherfreut nahm der fromme Mann das Anerbieten an und wünschte dem Edeln Gottes Segen dafür. Die Beiden machten in grösster Dunkelheit sich nun auf, voran der Ritter mit der Fackel, jedoch absichtlich einen falschen Weg wählend, dem Tobel zu. - Plötzlich, mitten im Walde, löschte er die Flamme aus und liess den Pilgrim hohnlachend in der grausen Finsternis hilflos stehen. Inzwischen hatte ein gewaltiges Gewitter sich gesammelt; die Blitze zuckten wie feurige Schlangen und der Donner wiederhallte in den Klüften. Der Regen goss in Strömen. - Da durchfuhr ein greller Blitz die Luft und steckte die Tanne, unter welcher der Unbarmherzige, vor dem Ungewitter sich schützend, versteckt hatte, an, und betäubte ihn selbst. Das Feuer griff rasch um sich und verzehrte die Tanne und den Ritter, dem in der Todesstunde eine Stimme aus dem Wetter zurief: »Vernimm du Frevler, was Gott, der Allmächtige dir gebeut: ‚da wo du im Leben gesündigt, sollst du im Tode büssen; jede finstere Mitternacht verlasse dein Grab, suche verirrte Wanderer auf und weise sie mit deiner Fackel auf den richtigen Pfad; bringt dann einst ein Geretteter aus frommem Herzensgrunde dir Dank, dann hat auch dir die Erlösungsstunde geschlagen; bis dahin aber büsse, und wandle unstet deinen Gang.‘
Zweihundert Jahre waren seitdem verflossen. - Ein Bursche in Cafreisen hatte in Castiel ein Mädchen lieb. Ihn überraschte einmal schreckliche Gewitternacht auf der Heimkehr durch das Tobel; der sonst des Weges Kundige verirrte sich. In der Herzensangst flehte er den Allmächtigen um Schutz. - Auf einmal erhellte Fackelschein das Dunkel; es war der Geist des Ritters, der seines Amtes gemäss den Führer des Verirrten machte, wofür der Bursche ihm herzlich dankte. - Die Erlösung der armen Seele des Ritters war bewirkt, und der Bursche eilte wohlgemut nach Hause, wo er der harrenden Mutter sein seltsames Abenteuer erzählte.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.