I.
Es steht auf schroffer Felsenwand
Die Bärenburg im Rätierland;
Sie blickt wie ein Schädel aus düsterm Grab
Ins stille Schamsertal hinab.
Der Bärenburger stand einmal
Am Fenster im bunten Rittersal;
Er lachte und sprach: »So weit ich mag schaun,
Sind mein die Dörfer, die Wälder, die Aun.
Du trotzig Volk, du hast mir geflucht,
Weil deinen Stolz ich zu brechen gesucht,
Nicht länger fürwahr sprichst du mit Hohn;
Du wirst zu frech, dir wird der Lohn.
Und drunten schaut aus seinem Haus
Der freche Caldar pfeifend heraus, -
Ist das nicht Hohn? In meinem Bann
Ist Caldar der schlimmste, verwegenste Mann.
S'ist Keiner, der wie er, so wild
Das Wort erhebt, wenns Aufruhr gilt.
Bei Gott, ich zeig ihm in kurzer Frist,
Wer von uns Beiden der Meister ist.
Wohlauf, ihr Knechte, und fasset Mut!
Die Rosse treibt auf Caldars Gut
Und lasst sie stampfen sein fettes Gras,
Das schürt die Flamme, das gibt mir Spass.«
Die Knechte üben den Frevel gleich.
Doch Caldar erhebt sich zornesbleich,
Der wackre Rätier, und tränket gut
Die Wiese sein mit der Rosse Blut.
Gleich fassen der Knechte vier ihn an,
Und schleppen ihn fort, den Berg hinan.
In trübem Kerker, öd und bang,
Dort muss er schmachten viel Jahre lang.
II.
Manch Jahr entschwunden, Caldar wieder frei,
Er sitzt in der Hütte, beim Weibe treu;
Doch finster er vor sich niederschaut;
Sein Haar ist verwildert, sein Bart ergraut.
Es schmiegen sich in seelger Lust
Die Kinder an die Vaterbrust;
Da bringt die geschäftige Hausfrau den Brei
Zum fröhlichen Abendessen herbei.
»Nun esset ihr Kinder, seid wohlgemut,
In Vaters Beisein schmecket es gut,
Wir haben lange, gar lang ihn vermisst.
Dankt Gott, dass wieder bei uns er ist.«
Da pochts an die Türe: »Wer noch so spät?
Schliess auf, lieb Weib!« Und finster trat
Der Schlossherr ein, Caldar springt auf,
Führt krampfhaft die Hand an des Schwertes Knauf.
»Gesegnetes Mahl«, ruft Jener laut.
Die Kinder zittern, dem Weibe graut,
Sie spricht: »Ich fürcht Euch zu kränken fast,
Sonst spräch ich, Herr Ritter, seid unser Gast.«
Der Bärenburger streicht den Bart:
» Weib, deine Ladung ist guter Art!«
Laut lacht er auf, stösst an den Tisch,
Speit in den Brei und jubelt frisch.
Doch Caldar springt empor und spricht:
»Nein, länger trag ich die Qualen nicht!
Das Mass deiner Sünden ist angefülltl«
Er fasst den Ritter, sein Zorn, der schwillt.
Er stösst ihm den Kopf in den siedenden Brei
Erdrosselt ihn, dem Schwure treu:
»Nun friss«, so ruft er in guter Rast,
»Den Brei, den du gewürzet hast.« -
Es trägt der Sturm von Tal zu Tal
Die Kunde von des Zwingherrn Fall;
Da ward der Schlossberg zum Altar,
Drauf stand die Burg in Flammen klar.
Und mit den Flammen stieg empor
Des Volkes Dank im Jubelchor!
Es grüsst der erste Morgenstrahl
Ein freies Volk im Schamsertal.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.