Zum armen Manne Christen Casolf in Conters im Prätigaue kam einmal ein» Venediger« und hiess ihn mit ins Gebirge kommen, wo er ihm in der Casana-Alpe eine Silber-Ader entdeckte, worauf sie zusammen wieder Conters zu gingen. Morndess nahmen sie noch einen Kameraden Casolfs mit und kamen auf die bezeichnete Stelle hinauf. - Sie gruben nun etliche Wochen strenge und hatten bereits eine so tiefe Grube, dass sie eine Leiter brauchten, hinab- oder heraufzusteigen und stiessen auf ganz netten Silberkies. Als sie nun vermeinten, die Metall-Adern bald erreicht zu haben, ging der Venediger von den zwei Andern weg, machte aber vorher noch einen Kreis um die Grube herum und sagte ihnen, an dem und dem Tage werde eine Weibsperson kommen und alle Gewalt anwenden, den Kreis zu überschreiten und in die Grube hinein zu schauen; das müssten sie aber
um Alles in der Welt verwehren, denn wenn das Weib nur einen einzigen Blick in die Grube zu werfen vermöge, werde all ihre Arbeit verloren und umsonst gewesen sein. Der eine der beiden Männer hielt am bestimmten Tage Wache. Währendem der Andere die gefundene Silber-Ader öffnen wollte, kam am Nachmittage das Weibsbild wirklich, sie kam wie rasend gegen die Grube gelaufen, mit aufgelösten, fliegenden Haaren. Der Mann lief ihr entgegen, um sie aufzuhalten, war aber nicht geschwinde genug. - Es gelang ihr, in den Kreis zu treten und in die Tiefe zu schauen. - Der in der Grube hatte sie erblickt und erklomm, Unheil voraussehend, schnell die Leiter. Kaum hatte er aber die letzte Leitersprosse verlassen, so schloss, unter grässlichem Gerumpel und Gekrache, die Höhle sich, und weder deren Spur, noch das Weibsbild sind je wieder gesehen worden.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.