Vor Zeiten sömmerte auf der Alpe, wo jetzt, hinter Pontresina, der kolossale Morteratsch-Gletscher liegt, ein junger Senn, mit Namen Aratsch, die Kühe des Dorfes. Er liebte die Tochter des reichsten Bauers in Pontresina; aber dieser, ein geldstolzer Mann, schlug sie ihm ab, und gab sie dem reichen Besitzer der Burg oberhalb des Dorfes. Aratsch aber ging in die Fremde und wurde Soldat.
Nach Jahren kehrte Aratsch als Offizier zurück; bei Nacht trat er in Annetta's Elternhaus, fand aber die Geliebte auf dem Totenschreine liegen, unter dem Spiegel, nach Landessitte, von Blumen umgeben. Stumm schaute er auf das bleiche Gesicht, dann stürmte er fort, schwang sich auf sein Ross, sprengte nach der Alpe, wo er einst gehütet, und weiter zu dem Gletscher, der dahinter lag, und spornte sein treues Tier zum grausen Sprunge in eine Gletscherspalte. - Niemand hat ihn wieder gesehen.
Auf dieser Alpe sennete damals der alte Barba Gian. Der hörte seither oft in stillen Nächten ein seltsames Handtieren in seiner Hütte, es war als ob Jemand von einer Gebse zur andern ginge und die Milch besorgte, und zwischen hinein ertönte eine klägliche, weibliche Stimme: »Mort Aratsch, Mort Aratsch!« (Aratsch ist tot). - Das war Annetta's Geist, der nach ihrem Tode noch an den des Geliebten gefesselt war.
Gian liess den Geist gewähren, und als er in hohem Alter das Senntum aufgab, empfahl er seinem Nachfolger, ein Gleiches zu tun, es werde sein Vorteil sein, denn seit der Geist da weile und walte, sei die Alpe besser geworden, und die Kühe gäben viel mehr Milch und bessern Rahm als vordem, auch verunglücke selten mehr ein Stück Vieh.
Aber der junge Senn war rohen und hartherzigen Sinnes, und als der Geist wieder kam und in die Milchgebsen schaute, ob Alles recht und in Ordnung sei, von jeder wieder wegging und klagte: »Mort Aratsch, Mort Aratsch!« da tat er einen furchtbaren Fluch und wies die arme Seele auf ewig aus der Hütte. - Und die »Mort Aratsch«-Jungfer entwich mit schmerzlichem Weinen. Aber aus der Höhe hörte der Senn noch ihre zürnende Stimme: »Schmaladia saja qua ist alp e sia paschüra!«
Von Stunde an rückte der Gletscher aus seiner Schlucht zusehends vor und überzog in kurzer Zeit die Alpe, die Hütte und das ganze Seitental, bis dahin, wo jetzt die Alp Nova ihr weniges Gras nährt. Nur die Boval-Hütte, hoch oben am Gletscher, und die Isla Persa (verlorene Insel) mitten in Eis und Schnee erinnern noch an die alte Alpe. In stillen Nächten aber vernimmt man noch bisweilen tief unten das Läuten der Herdenglocken und die Klage um Aratsch.
Der Gletscher aber trägt noch heutzutage zum beständigen Andenken an Aratsch's Tod den Namen Morteratsch-Gletscher.
Andere erzählen, die Pontresiner hätten, auf die Beschwerde des jungen Sennen hin, den Geist durch einen Kapuziner wollen bannen lassen. Der habe zwar die Hütte von dem Geiste befreit, aber sofort sei sie auch in Asche zerfalIen, und zugleich habe der Gletscher angefangen vorzurücken.
Quelle: D. Jecklin, Volksthümliches aus Graubünden, Zürich 1874
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.