Beschienen bald vom Sonnenglanz,
Von Wolken dann umstürmt,
Hoch die Galanda aus dem Kranz
Der Alpen auf sich türmt;
Der Wälder Grün, der Täler Pracht
Sie huldigen des Herrschers Macht;
Der Rhein, der kecke, junge,
Er stürzt heran, im Sprunge,
Er stürzt heran in mutgem Fluss
Und küsset rauschend seinen Fuss.
Dort hört man auf der steilen Höh
Die Heerdenglocken klingen,
Fast bis hinauf zum ewgen Schnee
Die grünen Alpen dringen;
Die besten Kräuter blühend stehn,
Die Kühe weidend drüber gehn,
Die Bächlein sich ergiessen,
Von Milch die Euter fliessen.
Doch sagt man sich aus alter Zeit
Von gar viel andrer Herrlichkeit. –
Da war, so weit der Himmel blau
Kein schönrer Alpensitz,
Da grünte ein noch besser Kraut
Als Mutternen und Ritz,
Drob waren gross und fett die Küh,
Dreimal des Tages molk man sie,
Es wären, milchgedrungen,
Die Euter sonst zersprungen.
Und dieses Himmelskraut, davon
Die Milch so floss, hiess Ziprion.
Wo weit und breit vom ewgen Schnee
Die Massen sich ergiessen,
Die Wildbäch jetzt von nackter Höh
Zerstörend niederfliessen,
Dort lief der Stier im weichen Grün
Bei seinen Kühen brummend hin,
Und wo die Schlucht, zerrissen
Von wilden Wassergüssen
Sich senket, lag, von dichtem Klee
Umgrünet rings, ein blauer See. –
Es waren auch an Sennes Stell
Gar schöne Jungfraun hie,
Die Arme weiss, die Aeuglein hell,
Die Wangen rosenglüh,
Die gingen oft, im Haar den Kranz,
Aufs Grün hinaus, zum Ringeltanz
Und glitten auf dem Plane
Des Sees in leichtem Kahne,
Geschaukelt von der blauen Flut
Umher in keckem Uebermut. –
Einst aber war an diesem Ort
Ein böser Geist erwacht,
Die Sennerinnen zogen fort
In finstrer Mitternacht
Zu einem Platz, dem Volk bekannt,
Der Hexenboden nur benannt;
Dort flogen sie in Kreisen
Nach schauerlichen Weisen:
Die sind noch jetzt vom Höllentanz
Mit schwarzem Gras bezeichnet ganz.
Da kam durch stille Lüfte her
Geflogen aller Orten
Der bösen Hexen furchtbar Heer,
Und sammelte sich dorten;
Es kamen aus dem Tale viel
Geritten auf dem Besenstiel.
Die Alten und die Jungen,
Die tanzten, summten, sprungen,
Und bei dem ersten Morgenstrahl
Gings wieder fort, zu Tal, zu Tal. –
Ein Jäger, frisch und flink und jung,
Hatt einstens sich verirrt,
Es hatte in verwegnem Sprung
Die Gemse ihn entführt;
Verdunkelt war der Sterne Schein;
Er irrte in die Nacht hinein,
Da rauscht auf schroffen Wegen
Ihm Sang und Tanz entgegen.
Und wie er bog urns Felsenstück
Lags schauerlich vor seinem Blick.
Schnell kam die jüngste Sennerin
Zum Jägersmann gegangen,
Ihr Herze brannte längst für ihn
In liebendem Verlangen;
Sie trat zu ihm mit keckem Mut,
Die Wangen flammten rot in Glut,
Der Atem hob so schnelle
Des Busens weisse Welle,
Es wehte lüstern ihr Gewand,
Sie bot ihm lächelnd ihre Hand.
Da fasst ihn helle Sinnenglut,
Er schlang um sie den Arm,
In Flammen kochte auf sein Blut,
Bei ihrem Kuss so warm;
Sie wogten schnell in Reihn dahin,
Dann sassen sie ins weiche Grün
Und küssten, kosten lange,
Gelehnet Wang an Wange;
Am Himmel fuhr der erste Strahl:
»Ihr Schwestern auf! zu Thal! zu Thal!«
Die Sennrin sass noch immer dort,
Schon glänzten rings die Flühe:
»Komrn, Schwester, komm zum Melken fort,
Es warten schon die Kühe!«
»Ach, melken, melken immerfort!
O, wärt ihr Kräuter längst verdorrt,
Die überall ihr spriesset,
Von Milch so überfliesset,
Verflucht sei Ziprion, Muttern und Ritz,
Vom Rhein bis auf die höchste Spitz!«
Der grause Fluch erscholl mit Macht
Und weithin wiederklang,
Da ist der Jäger schnell erwacht,
Behende auf er sprang:
»Behüt mir Gott Muttern und Ritz
Vom Rhein bis auf die höchste Spitz!«
Und wie er aufgesprungen,
Und wie das Wort verklungen,
Der Sennerinnen arge Schaar
Mit Blitzeseil zerstoben war.
Doch weil der Jäger in der Hast
Den Ziprion vergessen,
Sind jene Weiden all verblasst,
Vom bösen Geist besessen,
Wo einst gegrünet dieses Kraut;
Mit brüllend dumpfem Schmerzenslaut,
Das Haupt gesenkt zur Erden,
Auf totem Gras die Heerden
Irrten umher; es brüllt entsetzt
Zur Stund des Fluchs das Vieh noch jetzt.
Noch sieht auf mancher Alpe dort,
Ein falbes Kraut man stehn,
Als wärs vorn Winterfrost gedorrt
lsts aussen anzusehn:
Doch strömet, wenn entzwei mans bricht,
Hervor die Milch, ganz weiss und dicht,
Die still und heimlich drinnen
In dürrer Hüll muss rinnen,
Und keine Kuh frisst je davon:
Und dieses Kraut heisst Ziprion.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.