Der Ziprion

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Beschienen bald vom Sonnenglanz,

Von Wolken dann umstürmt,

Hoch die Galanda aus dem Kranz

Der Alpen auf sich türmt;

Der Wälder Grün, der Täler Pracht

Sie huldigen des Herrschers Macht;

Der Rhein, der kecke, junge,

Er stürzt heran, im Sprunge,

Er stürzt heran in mutgem Fluss

Und küsset rauschend seinen Fuss.

 

Dort hört man auf der steilen Höh

Die Heerdenglocken klingen,

Fast bis hinauf zum ewgen Schnee

Die grünen Alpen dringen;

Die besten Kräuter blühend stehn,

Die Kühe weidend drüber gehn,

Die Bächlein sich ergiessen,

Von Milch die Euter fliessen.

Doch sagt man sich aus alter Zeit

Von gar viel andrer Herrlichkeit. –

 

Da war, so weit der Himmel blau

Kein schönrer Alpensitz,

Da grünte ein noch besser Kraut

Als Mutternen und Ritz,

Drob waren gross und fett die Küh,

Dreimal des Tages molk man sie,

Es wären, milchgedrungen,

Die Euter sonst zersprungen.

Und dieses Himmelskraut, davon

Die Milch so floss, hiess Ziprion.

 

Wo weit und breit vom ewgen Schnee

Die Massen sich ergiessen,

Die Wildbäch jetzt von nackter Höh

Zerstörend niederfliessen,

Dort lief der Stier im weichen Grün

Bei seinen Kühen brummend hin,

Und wo die Schlucht, zerrissen

Von wilden Wassergüssen

Sich senket, lag, von dichtem Klee

Umgrünet rings, ein blauer See. –

 

Es waren auch an Sennes Stell

Gar schöne Jungfraun hie,

Die Arme weiss, die Aeuglein hell,

Die Wangen rosenglüh,

Die gingen oft, im Haar den Kranz,

Aufs Grün hinaus, zum Ringeltanz

Und glitten auf dem Plane

Des Sees in leichtem Kahne,

Geschaukelt von der blauen Flut

Umher in keckem Uebermut. –

 

Einst aber war an diesem Ort

Ein böser Geist erwacht,

Die Sennerinnen zogen fort

In finstrer Mitternacht

Zu einem Platz, dem Volk bekannt,

Der Hexenboden nur benannt;

Dort flogen sie in Kreisen

Nach schauerlichen Weisen:

Die sind noch jetzt vom Höllentanz

Mit schwarzem Gras bezeichnet ganz.

 

Da kam durch stille Lüfte her

Geflogen aller Orten

Der bösen Hexen furchtbar Heer,

Und sammelte sich dorten;

Es kamen aus dem Tale viel

Geritten auf dem Besenstiel.

Die Alten und die Jungen,

Die tanzten, summten, sprungen,

Und bei dem ersten Morgenstrahl

Gings wieder fort, zu Tal, zu Tal. –

 

Ein Jäger, frisch und flink und jung,

Hatt einstens sich verirrt,

Es hatte in verwegnem Sprung

Die Gemse ihn entführt;

Verdunkelt war der Sterne Schein;

Er irrte in die Nacht hinein,

Da rauscht auf schroffen Wegen

Ihm Sang und Tanz entgegen.

Und wie er bog urns Felsenstück

Lags schauerlich vor seinem Blick.

Schnell kam die jüngste Sennerin

Zum Jägersmann gegangen,

Ihr Herze brannte längst für ihn

In liebendem Verlangen;

Sie trat zu ihm mit keckem Mut,

Die Wangen flammten rot in Glut,

Der Atem hob so schnelle

Des Busens weisse Welle,

Es wehte lüstern ihr Gewand,

Sie bot ihm lächelnd ihre Hand.

 

Da fasst ihn helle Sinnenglut,

Er schlang um sie den Arm,

In Flammen kochte auf sein Blut,

Bei ihrem Kuss so warm;

Sie wogten schnell in Reihn dahin,

Dann sassen sie ins weiche Grün

Und küssten, kosten lange,

Gelehnet Wang an Wange;

Am Himmel fuhr der erste Strahl:

»Ihr Schwestern auf! zu Thal! zu Thal!«

 

Die Sennrin sass noch immer dort,

Schon glänzten rings die Flühe:

»Komrn, Schwester, komm zum Melken fort,

Es warten schon die Kühe!«

»Ach, melken, melken immerfort!

O, wärt ihr Kräuter längst verdorrt,

Die überall ihr spriesset,

Von Milch so überfliesset,

Verflucht sei Ziprion, Muttern und Ritz,

Vom Rhein bis auf die höchste Spitz!«

 

Der grause Fluch erscholl mit Macht

Und weithin wiederklang,

Da ist der Jäger schnell erwacht,

Behende auf er sprang:

»Behüt mir Gott Muttern und Ritz

Vom Rhein bis auf die höchste Spitz!«

Und wie er aufgesprungen,

Und wie das Wort verklungen,

Der Sennerinnen arge Schaar

Mit Blitzeseil zerstoben war.

 

Doch weil der Jäger in der Hast

Den Ziprion vergessen,

Sind jene Weiden all verblasst,

Vom bösen Geist besessen,

Wo einst gegrünet dieses Kraut;

Mit brüllend dumpfem Schmerzenslaut,

Das Haupt gesenkt zur Erden,

Auf totem Gras die Heerden

Irrten umher; es brüllt entsetzt

Zur Stund des Fluchs das Vieh noch jetzt.

 

Noch sieht auf mancher Alpe dort,

Ein falbes Kraut man stehn,

Als wärs vorn Winterfrost gedorrt

lsts aussen anzusehn:

Doch strömet, wenn entzwei mans bricht,

Hervor die Milch, ganz weiss und dicht,

Die still und heimlich drinnen

In dürrer Hüll muss rinnen,

Und keine Kuh frisst je davon:

Und dieses Kraut heisst Ziprion.

 

Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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