Die gewonnene Alpe
AIs einst die Dörfer Untervatz
Und Haldenstein wegen Solatz.
Der schönen Alp, im Streite lagen
Und täten drob sich hart verklagen,
Da lebt in Untervatz ein Mann,
Zu dem kam Meister Urian,
Und plagt ihn ohne Unterlass,
Und schwatzt ihm dies und schwatzt ihm das,
Und wie er gern die Richter bestäche,
Und wie er ihm eine Formel spräche
Am rechten Ort, zu rechter Stund,
Und tat darauf ihm Alles kund,
Wie er es sollt anstelln und machen,
Damit nach Wunsche gehn die Sachen.
Dem guten Mann scheints all so leicht,
Dass endlich er dem Bösen weicht.
Er steht in schwarzer Mitternacht
Vom Bette auf ganz leis und sacht,
Füllt halb mit Erde seine Schuh,
Nimmt seinen Löffel aus der Truh
Und steckt ihn oben auf den Hut,
Befolgt den Rat des Bösen gut;
Und wie er Alles hat getan,
Klimmt er den Weg zur Alp hinan,
Die Wolken schwarz am Himmel zogen,
Es rauschten fern des Stromes Wogen,
Durch dürre Bäume strich der Wind
Und trieb das Laub vom Ast geschwind –
Dem Bauern wards so bang, so schwer,
Als kämen geschlichen hinten her
Gespenster luftig wunderlich,
Drum eilt er sehr und sputet sich,
Bis dass er kam zum rechten Ort,
Und lauten Munds sprach er das Wort:
»So wahr ich steh und rede hier
Auf meinem eignen Grund, und mir
Mein Schöpfer rühret an das Haupt,
Sei niemals uns die Alp geraubt.«
Das hallte dann so hohl, so kalt
Lang durch den dunkeln, stummen Wald,
Das Echo sprach es dumpfig fort -
Es schreckte ihn das eigne Wort,
Zu Berge standen ihm die Haar,
Er fiel zur Erd, so lang er war,
Und Blitze zeigten blutigrot
Sein Angesicht, entstellt und tot. –
Die Alp gehöret Vatz jetzt zu,
Doch hat der Bauer keine Ruh:
Er stehet oft noch auf zu Nacht,
Und stampft den Boden, dass es kracht,
Und schaut umher, als ob er träum,
Und heult und singt den Höllenreim:
»So wahr ich steh und rede hier
Auf meinem eignen Grund, und mir
Mein Schöpfer rühret an mein Haupt,
Sei niemals uns die Alp geraubt.«
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.