Ein Venediger kam viele Sommer hintereinander nach Glarus, begab sich dann auf eine Hochalp, ass und schlief mit den Hirten, und las den Tag über besonders glänzende Steine zusammen. In acht Tagen sammelte er so viele, dass er sieben Säcke damit füllen konnte.
Im Spätsommer sprach er eines Tages zu den Hirten: “Jetzt geh' ich wieder nach Venedig, und wenn mich einer von euch dort besucht, so geb' ich ihm einen Sack voll Silber.”
Diese Rede hörte ein armer Mann sehr wohl. Drunten im Tal besass er Weib und Kind, aber nur ein kleines Gütchen, das zudem wenig abtrug. Er wurde mit sich einig, den Venediger zu besuchen, und mit einem Sack voll Silber seiner schweren Haushaltung auf die Beine zu helfen.
Dieser war aber schon lange auf und davon gegangen. Überall hatte man mit dem Vieh die schon Alpen verlassen, als der Hirt auszog, dem Meer zuwanderte, und schliesslich glücklich nach Venedig kam. Doch wie sollte er hier den Gesuchten finden? Er wusste weder Haus noch Heimat, ja nicht einmal den Tauf- und Geschlechtsnamen des Venedigers. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis er durch eine enge Gasse hinabgeht, wo ein vornehmer Herr auf ihn zukommt, ihm die Hand reicht und ihn freundlich willkommen heisst.
Dann fragt er ihn nach Glarus, wie es den Hirten von der und der Hochalp auch gehe? Mit grossen Augen sieht der Schweizer den Fremden an, und erkennt, dass dieser vornehme Herr jener Venediger ist, der jeweils im Sommer auf der Hochalp lebte, wo er selbst mit anderen Hirten das Vieh besorgte.
Von Herzen gerne folgte der Hirt der Einladung des Venedigers, bei ihm Quartier zu nehmen und sich von ihm aufs prächtigste bewirten zu lassen. Bald aber wollte dem Glarner das vornehme Leben nicht mehr gefallen, so schön und weich auch sein Bett war und so gut und genug Speise und Trank er täglich bekam; sein Sinn und seine Gedanken waren immer nur zu Glarus bei Weib und Kind.
So sass er einmal vor des Venedigers Haus und dachte wieder traurig an die Heimat, und die Augen liefen ihm über. Da trat der Venediger zu ihm und sagte: “Mir scheint, du langweilst dich hier und hast gar Heimweh.” - “So ist's”, sprach der Hirt, “es plagt mich so, dass ich mir gar nicht zu helfen weiss.” Der Venediger führte ihn dann ins Haus in ein Gemach, und stellte ihn dort vor eine Wand, die der hellste Spiegel war. “Da schau, wie es jetzt im Flecken Glarus steht!” sagte der Venediger. Und der Hirt sah vor sich Glarus so klar und deutlich, als wenn es gerade nur hinter der Wand stände, und fand auch sein armseliges Hauswesen.
Sein Weib sass gerade vor dem Hause und wusch eben ihr Kind, die Augen standen ihr voll Tränen, weil sie wahrscheinlich an ihren Mann in der Fremde dachte. “Jetzt gehe nur wieder heim”, sagte der Venediger zu ihm, “Zehrung gebe ich dir in Gold oder Silber mit. Gold hole ich dir selber; willst du aber lieber Silber, so kannst du es selber aus meiner Schatzkammer nehmen.” - „Ich will nur Silber, so wie Ihr es zu Glarus versprochen habt,” erwiderte der Hirt, ging in die Schatzkammer, und füllte einen Sack mit Silber. Beim Abschied sagte der Venediger noch zu ihm: “Gib ja recht acht auf den Sack, dass er dir nicht abhanden kommt. Wenn du in einem Wirtshause übernachtest, so nimm ihn mit ins Bett und lege ihn unter den Kopf.”
Der Hirt bedankte sich höflich für alles Gute, machte sich dann auf den Weg, und eilte der Heimat zu. Bei der ersten Nachtstation dachte er an den guten Rat des Venedigers, nahm den Sack voll Silber mit sich zu Bett, und legte ihn unter den Kopf.
Wie er aber am Morgen erwachte, schaute er sich um und wusste erst gar nicht, wie ihm geschah: denn er lag daheim, zu Glarus, im eigenen Hause, in der eigenen Schlafkammer, im eigenen Bett, und hatte den Sack voll Silber unter dem Kopfe. Nun war er ein reicher Mann. Seine Ururenkel leben jetzt noch in Ehren und Ansehen zu Glarus, und man heisst sie nur die Venedigerleute.
Anm.: Venediger = Kristall- und Goldsucher, die aus Italien, meist aus Venedig in die Alpen kamen und denen man übernatürliche Kräfte zuschrieb.
Aus: H. Herzog, Schweizer Sagen, Aarau 1882