Die alte Spinnerin

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Im Aletschtal nahe beim Gletscher stand einst ein heimeliges Holzhäuschen, das Sonne und Regenwetter ganz schwarz gebeizt hatten. Eine fromme, alte Witwe wohnte viele Jahre darin. Die sorgte sich sehr um die armen Seelen, die zahllos wie unabsehbare Heerscharen im Aletsch-Eis büssen, und die bei Tage nur die Köpfe mit den blaugefrorenen Wangen aus den Gletscherspalten strecken dürfen.

            Wenn die Greisin an den langen Winterabenden beim Schein ihres Öllämpchens emsig spann, betete sie fast beständig für die Verstorbenen. Und währen sie ihr Spinnrad näher zum warmen Ofen rückte, wie dauerten sie dann die Ärmsten, die draussen schlotternd in Frost und Finsternis stehen mussten! Darum liess sie nachts die Haustüre immer nur angelehnt, damit die frierenden Seelen in die geheizte Stube kommen und sich wärmen konnten. Ihnen zuliebe mochte sie mit dem Holz nicht sparen. Doch durften sie erst eintreten, wenn das Mütterchen die Erlaubnis gab und sie dazu aufforderte. Und das tat sie, sobald sie selber zu Bett ging. Dann öffnete sie ein Fensterflügelchen und rief leise hinaus: „Jetzt - aber meines Friedens unbeschadet!“ Bevor sie sich zur Ruhe begab, zupfte sie aber noch den Docht des Lichtes sorglich in die Höhe und liess ein Stümpchen brennen, die Seelen sollten doch nicht im Dunkeln bleiben. Und bald ging die Haus-, dann die Zimmertür von einem kühlen Luftzug sachte auf. Unzählige Tritte blosser Füsse kamen, aber kaum vernehmbar, das Haus herauf. Das trippelte und trippelte unaufhörlich herein, als wenn viel Volk sich in die Stube um den warmen Ofen drängte. Die gastfreundliche Witwe nebenan in der Kammer lächelte befriedigt unter ihrer Decke: Nun mochten sie für ein paar Stunden wieder warm werden, die Durchfrorenen! Gegen Morgen um die Zeit des Betläutens pflegte sie aufzuwachen, wenn das gleich Geräusch drüben hinauszog.

            Einmal geschah es, dass die Witwe - Altschmidja wurde sie von den Leuten genannt - länger als gewöhnlich aufblieb und noch eifrig spann, als das Licht schon tief heruntergebrannt war Es war eine schaurig kalte Januarnacht. Da pochten leise Finger ans Fenster und es rief draussen, die Frau höret es ganz deutlich „Hui, wie kalt! D Altschmidja spinnt noch!“ - „Ja, ich weiss wohl, dass ihr wartet“, gab sie zur Antwort, „ich will nur dies Löckchen Werg noch abspinnen.“ Aber es dauerte nicht lange, so klirrten die Scheiben ordentlich, als ob ganze Schwärme von Faltern dagegen bumsten, und das Rufen wurde lauter: „Hui, wie kalt! D Altschmidja spinnt noch!“ Da wurde sie aber fast böse und erwiderte ungeduldig: „Wenn ihr’s denn nicht erleiden könnt, bis ich fertig bin, so kommt herein!“ Sie vergass diesmal jedoch beizufügen: „Ohne mich zu belästigen!“

            Jetzt sprangen Haus- und Stubentüren beinah miteinander wie von einem starken Windstoss auf, ein eiliges Wallen und Wogen von unsichtbaren Abendsitzern erfüllte das Haus, und das Herumrauschen in Gang und Gemach wollte kein Ende nehmen. Dem Mütterchen wurde nagst und bang. Sie meinte vor Hitze und Gepresstheit zu ersticken, und doch konnte sie keinen Schritt vom Rocken wegrücken, so gedrängt voll war der Raum von armen Seelen. Das war nun ihre Strafe, dachte sie. Warum hatte sie die Frierenden so lang draussen in der Kälte warten lassen! Künftig wollt sie gewiss barmherziger und vorsichtiger sein.

            Als nach Jahr und Tag die mitleidige alte Schmidja eines Winterabends in den letzten Zügen lag und die beiden Krankenpfleger einander halblaut fragten: „Was werden die armen Seelen sagen, wenn ihre Freundin nicht mehr da ist?“ da rief es aus der nächtlichen Stille vor dem Fenster vernehmlich: „Hui, wie kalt! D Altschmidja lebt noch!“ Die Sterbende machte noch ein Zeichen, dass sie sich über diese Stimmen freue, liess dann die Hand auf die Decke fallen und tat den letzten Seufzer.

            Im gleiche Augenblick drang von draussen eines starke Helle herein, und als die zwei Wärter an die Scheiben traten, sahen sie eine lange Prozession brennender Lichtlein, die vom Hause weg bis zum Gletscher hinüber flackerten und dort eins nach dem andern, wie von einem eisigen Wind ausgeblasen, erloschen. „Das sind die armen Seelen“, flüsterten die beiden zueinander, mit all den Nachtlichtern, welche die Verstobene für sie hat brennen lassen. Jetzt haben sie ihre Freundin auf ihrem Bussgang zum Gletscher begleitet. Ja, d Altschmidja war gut.“

 

Schweizer Sagen von Arnold Büchli

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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