»Was fehlt mir noch zu meinem Glück?
Was fehlt mir denn noch mehr?
Soweit ich sende meinen Blick
Ist Alles Mein umher:
Vom Tale bis zur Gletscherwand,
Allüberall bin ich bekannt,
Die reichste Frau im Land. –
Die melchsten Kräuter sprossen hier,
Die schönste Heerd\' ist mein,
Dreimal des Tages bringt man mir
Die reinste Milch herein:
Vom Tale bis zur Gletscherwand,
Allüberall bin ich bekannt,
Die reichste Prau im Land. -
Und steig ich nieder in das Tal,
Dann trete keck ich vor;
Scheu steh'n sie ferne allzumal,
Und flüstern sich in's Ohr:
Vom Tale bis zur Gletscherwand,
Allüberall ist sie bekannt,
Die reichste Frau im Land.«
Da sieh' da wankt ein armer Mann
Ermattet durch die Au;
Kaum dass er noch sich halten kann,
Und fleh'n zur reichen Frau:
»O, gebet mir ein Stücklein Brod;
Errettet mich aus grosser Not,
Errettet mich vom Tod! «
»Was woll’t ihr denn? Was ficht euch an?
Was soll’s nun wieder sein?»
»O Frau! … der Tod! … ich armer Mann,
Erbarmt, erbarmt euch mein!«
»Fort, fort! Woll’t ihr jetzt gehen gleich?«
»O gebt! Ihr habt’s, ihr seid so reich!«
»Geh’t! Nichts hab‘ ich für euch!«
Der Bettler wankte klagend fort,
Zur Hütte arm und klein,
Die unten stand, nicht weit vom Ort;
Schnell lud der Senn ihn ein:
»Komm’t, armer Mann, ihr scheint so matt;
Dank dem, der mir’s gegeben hat!
Kommt, kommt und ess’t Euch satt.«
»Wohl dir, du acht’st mich nicht gering,
Ich will dir dankbar sein!«
Und ging fürbass, und wie er ging
Umfloss ihn heller Schein;
Die Wolken kamen und dienten ihm,
Die Bergesspitzen neigten sich ihm,
Ihm sangen Cherubim.
Auf jenes armen Sennen Flur,
Da schoss das schönste Kraut,
Selbst Felsen schwanden ohne Spur,
Vom Rasen überbaut;
Doch auf der Alp der reichen Frau,
Da blitzen Flammen, rot und blau
Hervor aus grüner Au. –
Die Blumen, Kräuter sind verbrannt;
Dort starren weit und breit
Jetzt Felsenblöcke in das Land
In öder Traurigkeit.
Die Herrin selbst entrann dem Brand;
Sie nahm den Bettelstab zur Hand,
Die reichste Frau im Land.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.