In Boscha, einem zu Steinsberg gehörigen, aber näher Guarda zu liegenden Weiler, stand ein kleines Wirtshaus, wo öfters die Mitglieder einer Räuberbande sich zu ihren Beratungen versammelten und ihre sündhaften Pläne entwarfen; die Wirtin, die damals das Haus allein bewohnte, zählte sich zu der saubern Gesellschaft, und half treu und wacker mit. Sie hatte nun einen einzigen Sohn im Auslande, der ganz anderer Art war, als die böse Mutter. Er zeichnete sich durch Treue und Arbeitsamkeit aus, war daher geachtet und geliebt, hatte sich einiges Vermögen erworben, und das Treiben seiner Mutter war ihm bis dahin unbekannt geblieben. Durch einen Landsmann erfuhr er einst in der Fremde, dass seine Mutter im Verdachte stehe, mit jener Bande gemeinsame Sache zu machen und dass sie wenigstens den Mitgliedern derselben Unterschlauf gebe. Er wollte und konnte aber dies nicht glauben, denn das kindliche Herz glaubt nur schwer von Vater und Mutter etwas Schlechtes.
Lange Zeit beunruhigte ihn das von seinem Bekannten über seine Mutter Gesagte, bis er endlich sich entschloss, heim zu kehren und sich von der Wahrheit oder Unwahrheit jener Aussage zu überzeugen.
Es war an einem unfreundlichen Herbstabend, Nebel und schwarze Wolken hatten schon den ganzen Tag den Himmel getrübt, und ein kalter Wind strich über die feuchte, sich zum langen Winterschlaf vorbereitende Erde, als es beim Zunachten an der Türe des kleinen Wirtshauses zu Boscha ziemlich heftig klopfte.
Die Wirtin trat in die Türe, und vor ihr stand ein schöner braungelockter Jüngling, der um ein Nachtlager anfragte. Mit erheuchelter Freundlichkeit führte ihn die Wirtin in die warme Stube, zündete Licht an, und als der Fremde ihr einen schweren und versiegelten Geldgurt zur Aufbewahrung übergab, nahm sie diesen mit malitiösem Lächeln zur Hand, tat ihn in den Schrank, und mag bei sich gedacht haben: diesen Abend mache ich allein einen guten Fang. Der Jüngling indessen gab vor, er sei müde und schläfrig, und legte sich auf die Ofenbank hin, während die Wirtin sich entfernte, um ihrem Gaste das Essen zu bereiten.
Nach einer Weile trat sie wieder herein und fand den Jüngling mit etwas offenem Munde ruhig schnarchend. Sogleich entfernt sie sich wieder, schürt In er Küche das Feuer noch mehr, kommt zurück und findet ihn noch immer in gleicher Lage. In der Meinung, er schlafe, war jetzt ihr höllischer
Entschluss reif geworden; sie eilt in die Küche, nimmt eine kleine Pfanne voll siedende Butter, trat dann in die Stube und leerte sie rasch bevor der Jüngling etwas davon ahnte, demselben in den Mund. Er wollte sich wehren, aber es war zu spät, er wollte sprechen, aber die Stimme versagt ihm den Dienst. Nur mit Mühe konnte er noch vernehmlich die Worte hervorbringen: »Mutter, Mutter, was hast du getan«, dann ward er eine Leiche. –
Aber diese Worte liessen ihr keine Ruhe mehr; sie raufte sich das Haar, kniete neben der Leiche, weinte und heulte, aber vergeblich, das entflohene Leben kehrte nicht mehr zurück. Endlich erhob sie sich und lief wie rasend im Hause herum, aber wo sie hinkam sah sie nur Dunkelheit und vernahm
aus derselben nur die für sie furchtbaren Worte; Mutter, Mutter, Was hast du getan. In dieser Lage der Reue und der Verzweiflung begab sie sich noch in jener Nacht zu einer Nachbarin und erzählte derselben die scheussliche Tat; dann verschwand sie auf immer. Seitdem sah Niemand die Unglückliche mehr; in den Wellen des jungen Inns mag sie ihr Grab gefunden haben. Aber nach dieser schrecklichen Tat sahen zuweilen die Wanderer, die des Nachts des Weges zogen, vor der Türe jenes Wirtshauses zu Boscha eine geisterhafte weibliche Gestalt, welche mit schwarzgelber Hand sie vom Hause wies und ihnen stumm andeutete, da nicht einzutreten.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.