Wo frisch des Himmels Odem weht
Auf Bergen grün und wild,
Einsam in der Kapelle steht
Ein Muttergottesbild:
Die Farben sind zerfahren,
Verschwunden der Email;
Doch manche Pilgerschaaren
Zieh'n noch zur wunderbaren Kapelle von Ziteigl. –
Wo jetzt des Bildes Heiligtum
Umschliesst der Kirche Raum,
Da lag einst unter Gras und Blum'
Ein Hirt' in süssem Traum:
Er sah den Himmel offen
In vollem Glanze steh'n;
Die hellen Lichter trofen
So süss wie Liebeshoffen,
So licht wie Wiederseh'n.
Aus offner Himmelspforte ging
Maria, himmlisch-mild;
Ein Sonnenstrahlenschein umfing
Ihr jungfräuliches Bild;
Die Engelsstimmen sangen
In leiser Melodie,
Die Lichter blitzend sprangen,
Die Wohlgerüche drangen
Ohn' Unterlass um sie. –
Wie weiss bewölktes Himmelsblau
Umfloss sie ihr Gewand,
So blau, wie ihrer Augen Blau,
So weiss, wie ihre Hand;
Die lichten Locken quollen
Umreift vom Blumenkranz
Um\'s Haupt der Wundervollen
In duftumhauchten Rollen,
Gleich einer Glorie Glanz. –
An einem Halm der Lilien drei
Hält sie in ihrer Hand;
Die and're streckt sie weiss und frei
Hin über all' das Land:
Drei helle Tropfen flossen,
Drei Tropfen, rot und rein,
Wie Rosen, gluterschlossen;
Sie haben sich ergossen
Auf einen Marmelstein. –
Wo frisch des Himmels Odem weht
Auf Bergen grün und wild,
Einsam in der Kapelle steht
Ein Muttergottesbild; -
Dort haben sich ergossen
Drei Tropfen, rot und rein;
Dorthin sind sie geflossen,
Wie Rosen, gluterschlossen,
Auf einen Marmelstein. –
Dort zeigt, verborgen in dem Schrein
In sorgsam frommer Hut,
Noch jetzt den Pilgern man den Stein,
D\'rauf floss der Reinen Blut;
Die Tropfen sind verschwunden,
Zum Himmel stiegen sie;
Doch manche Herzenswunden,
Die konnten dort gesunden
Ave Ave Marie! –
(Die Wallfahrtskirche, »Unserer lieben Frau« geweiht, hoch oben im Gebirge, gehört zur Pfarrei Salux. Diese schöne, ziemlich grosse Kirche schliesst in sich das wundertätige Bild (Statue) der heiligen Maria von Ziteigl. - Aus vielen Tälern Bündens, aus Italien und Vorarlberg pilgern grosse Züge gläubiger Christen nach diesem berühmten Wallfahrtsorte hin.
In der Nähe dieser Kirche erschien im Jahre 1580 die Gebenedeite dem J.D. von Marmels, einem Hirten von Salux, durch denselben die Bewohner des Tales zum Baue eines Heiligtums aufzufordern. Zum Beweise ihres körperlichen Daseins liess sie auf einem Stein drei Blutstropfen zurück. - Als man nun an der bezeichneten Stelle den Bau eines Gotteshauses beginnen wollte, fanden die Bauleute Steine und Material höher auf den Berg gerückt und dieser Deutung Folge leistend, errichteten sie dort ein der »heiligen Maria« geweihtes Andachtsgebäude. Mehrmals wurde nun das Gotteshaus umgebaut und vergrössert und vielfach ausgeschmückt, auch an den schönen Bau ein Kapuzinerhospiz angebaut. - Dieser wundertätigen heiligen Maria auf »Ziteigl« verdanken Viele, die zu ihr hin wallfahrteten, ihre Genesung von Krankheiten.)
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.