St. Victor

Land: Schweiz
Kategorie: Legende

Victor, von seinen Eltern in seiner Kindheit Gott zum Opfer gebracht, weihte seine Jugend der Frömmigkeit und dem wissenschaftlichen Studium und übertraf an geistigen Vorzügen alle seine Altersgenossen. Seine Gelehrsamkeit und sein gottgefälliges Leben liessen ihn zum Lieblinge des Volkes werden, und die Geistlichkeit erhob ihn zur Würde des Priestertums. Er wurde Seelsorger an der Kirche der heiligen Gottesgebärerin im Orte Tomils und wirkte segensreich, belehrend, mahnend, tröstend und helfend, und der Ruf seiner Heiligkeit verschaffte ihm Ansehen und Liebe; die wahre Palme der Heiligkeit jedoch verschaffte ihm sein ärgster Feind selber.

Es war nämlich das väterliche Gut Victors bei TomiIs gelegen. Dieses als Eigentum an sich zu bringen, fasste ein betrügerischer Mann, Victors Feind, den Entschluss, ihn durch heimliche Bosheit oder offenen Frevel zum Kampfe zu reizen. Zur Zeit der Weinlese, als der Priester Victor seinen Weinberg zu TomiIs besichtigte, fiel der Bösewicht ihn an und schlug ihm nach kurzem Wortwechsel mit einem Schwerte das Haupt ab. Aber! Oh Wunder. Der verstümmelte Körper hob alsbald das blutende Haupt vom Boden auf, trug dieses - Loblieder singend - auf einen nahen Hügel und legte es dort in die Erde.

Im Kloster Cazis waren zwei Schwestern des Gemeuchelten, Aurora und Evalina mit Namen, Stiftsfrauen. Diese waren eben in der Frühmesse, als plötzlich die Glocken des Stiftes von selbst anfingen zu läuten, und von einer Ahnung erfüllt, gingen sie hinaus und sahen, wie die Seele ihres Bruders eben gen Himmel fuhr. Noch mehr, der Heilige wandelte zum Rheine. Die Wellen stauten auf, und trockenen Fusses gelangte er an\'s andere Ufer.

Die beiden Schwestern gaben dem Convente unverweilt Kunde von dem kläglichen Tode ihres Bruders, und es ging ohne Säumen eine grosse Prozession dem daherschreitenden Märtyrer entgegen. Bei der Prozession angekommen, ging der Heilige mit derselben dem Stifte zu. Sein Körper wurde zur allerhöchsten Verehrung im Kloster bestattet und zu ihm hin geschahen überall her Wallfahrten.

Der heilige Körper wurde im Verlaufe der Zeit zwei Male wieder aufgefunden, das erste Mal unter Bischof Heinrich VI. am 28. Mai 1496, das zweite Mal unter Bischof Johann V. am 24. Mai 1609 und von demselben an den grossen Altar versetzt, wobei er einen süssen Wohlgeruch verbreitete. Auf dem Hügel, wo der Heilige sein Haupt niedergelegt und selbst bestattet hatte, erstand zu seinen Ehren eine Kapelle, die noch heute steht.

 

Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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