Vor langen, langen Jahren lebte auf der Burg ein junger, stattlicher Freiherr, dessen Hausfrau eine Tochter des Herrn auf dem alten Turm in Zuz war. Die Ehe war glücklich und mit zwei Knäblein gesegnet; aber der Friede des Hauses wurde bald gestört. Die Edelfrau bemerkte nämlich, dass ihr Gatte nicht mehr so liebreich und unbefangen war, wie ehedem, und seit einiger Zeit alltäglich zu bestimmten Stunden vormittags das Schloss verliess und erst spät wieder heimkehrte. Sie fragte den Jäger, der den Herren oft begleitete, aber konnte von ihm nur erfahren, dass ein Eid seine Zunge binde. Die listige Edelfrau brachte gleichen Tages dem Jäger zwei Beutel, einen mit Gold, den andern mit grobem Sande gefüllt; der Jäger begriff, dass er zwar nicht reden musste, verstand aber dennoch die Weisung seiner Herrin und nahm beide Beutel; das Gold behielt er für sich und den Sand streute er unvermerkt aus, als er seinen Herrn am nächsten Vormittage wieder begleitete. Die Edelfrau folgte der Spur des Sandes, die sie nach der Höhle im Assatal führte, und sie ging ihr nach, bis sie davor stand. Da lag der Jäger und schlief, oder schien zu schlafen, und in der Höhle fand sie den Gatten in den Armen einer schönen Bergfee, beide in sanftem Schlummer. Jetzt war das Rätsel gelöst. Die Edelfrau entfernte sich ebenso sachte, wie sie gekommen, doch schnitt sie vorher von den zwei schönen Haarflechten der Fee eine ab und nahm sie mit sich.
Der Burgherr kam verdriesslich heim und konnte seinen Trübsinn nicht bergen. Doch schwieg er, wie immer.
Da schloss die Edelfrau eines Tages die Truhe auf und überreichte ihm die Haarflechte der Fee, und gab ihm mit sanften Worten die Freiheit, zu tun, was seinem Herzen gelüste. Das fiel dem Ritter schwer auf’s Herz. Er versprach der Frau die Fee fürderhin zu meiden, und hielt redlich Wort. Die Haarflechte liess er durch den Jäger zu der Höhle tragen und ihn dort niederlegen. Am dritten Tage darauf, zur der Zeit, als der Edelmann vordem nach der Höhle gegangen, vernahm der Torwart eine gellende, weibliche Stimme, welche ausrief, der Burgherr möge zu der Höhle kommen, sonst werde sein Stamm aussterben und sein Gut in fremde Hände fallen. Aber der Edelmann ging nicht wieder nach der Höhle im Assatal.
Da stieg die Fee in die Höhle hinab, in deren Tiefe man sie noch lange Zeit weinen hörte, und aus welcher ihre Tränen dringen, zur Stunde, wo der Geliebte zu kommen pflegte. Von dieser Zeit an ruhte aber kein Segen mehr auf der Burg. Der Ritter fiel in einer Fehde, seine Söhne starben jung an einer Krankheit, in ein und derselben Stunde, und die Edelfrau schloss ihr Leben hochbetagt, kummergebeugt, als Äbtissin zu St. Maria im Münstertal. Das schöne Erbe fiel an dieses Kloster. Aber noch heute fliessen die Tränen der Fee in der Grotte im Assatal.
Aus: D. Jecklin, Volkstümliches aus Graubünden, Zürich 1874