Wo aus dorfgeschmücktem Tale
Stolz der Berg sich hebt hinan,
Liegt im hellsten Abendstrahle
Leuchtend, einer Alpe Plan;
Dorten über grüne Höhen
Schöne Kühe heimwärts gehen
Euterstrotzend, wohlgetan.
Lockend ruft der Senne, strecket
Mit dem Salz die Hände hin,
Achtet wohl, dass jede lecket,
Keiner mag er es entzieh\'n;
Denn es kommt dabei das alte
Wunderbarlich ungestalte
Nebelmännlein ihm zu Sinn.
Das, wenn Wolken niederhangen
Regenschauernd, frostig, grau,
Mit dem Schleier zu umfangen
Lichten Himmels helles Blau,
Auf der Alpe pflegt zu Zeiten
Leisen Schritt\'s umher zu gleiten
Und zu schweben durch die Au.
Einen Hut gar breiten Randes,
Trägt es, Holzschuh\' hat es an,
Mit der alten Tracht des Landes
Seltsam ist es angetan;
Um die nebelweisse, weite
Jacke hat es an der Seite
Eine Tasche umgetan.
So erscheint es bei den Hütten
Wenn es dunkelt, Abends spät,
Öfter auch am Tage, mitten
Unterm Vieh umher es späht.
Seine Hände lockend strecket,
Und wenn keine Kuh sie lecket,
Trauernd dann von hinnen geht.
Denn so laut das alte, schlimme
Nebelmännlein, traumbetört
Auch erhebe seine Stimme,
Niemals doch das Vieh ihn hört;
Und es geht die alte Kunde
Bei den Hirten, die vom Munde
Ihrer Väter sie gehört:
Dieses sei ein ungerechter
Hirt gewesen an der Statt,
Der dem Vieh, zu dessen Wächter
Er bestellet, Untreu\' tat,
Der das Salz nicht recht verwogen,
Ein\'gen Kühen es entzogen,
Und gegeben Andern satt.
Jetzo aber müss\' er schweifen
Durch die Triften leis\' und sacht\',
Wenn die Wolken düster streifen,
Wenn es schneit in dunkler Nacht,
Bis die rechte Zeit gekommen,
Bis das Vieh den Ruf vernommen,
Er das Unrecht gut gemacht.
Darum lockt der Senne, strecket
Mit dem Salz die Hände hin,
Achtet wohl, dass jede lecket,
Mag es keiner je entzieh\'n;
Denn es kömmt dabei das alte,
Wunderbarlich umgestalte
Nebelmännlein ihm zu Sinn.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.