Vor langer Zeit lebte in der Prärie ein Junge. Seine Eltern waren gestorben und deshalb riefen ihn die anderen „Lone Boy“ – Einsamer Junge. Er war arm und zum Essen bekam er nur, was die anderen nicht mehr wollten. Wenn die Zeit der Büffeljagd kam, musste er zu Fuss hinter den Pferden hergehen, denn er besass kein Pferd. Einmal, als er wieder hinter den anderen herziehen musste, hörte er ein Wimmern. Er folgte dem Klang und entdeckte in einer kleinen Schlucht ein geschecktes altes Pferd. Es sah jämmerlich aus. Unter seinem dünnen Fell sah man die Rippen und die Mähne und der Schweif waren struppig, wie altes Gras. Er streichelte das alte Pferd und sprach: «Du armer Kerl, ich werde mich um dich kümmern.» Als er mit seinem alten Schecken zu den anderen kam, lachten sie ihn aus, noch nie hatten sie so ein klapperiges, altes Pferd gesehen. Doch Lone Boy gab dem Alten vom besten Gras zu fressen, er pflegte sein Fell, bis es wieder glänzte und kämmte ihm liebevoll die Mähne und den Schweif.
Eines Tages entdeckten die Späher vom Stamm eine grosse Büffelherde. Eines der Tiere war etwas ganz Besonderes, denn es hatte ein geflecktes Fell. Der Häuptling wollte das Fell gerne haben und er rief: «Ich gebe demjenigen meine Tochter zur Frau, der mir das gefleckte Fell bringt!»
Da stürmten die besten Reiter auf ihren schnellsten Pferden davon. Lone Boy setzte sich auf sein klappriges Pferd und trottete ihnen hinterher. Die anderen lachten, doch Lone Boy konnte nur an das liebliche Gesicht der Häuptlingstochter denken. Als sie schon weit vom Stamm entfernt waren, blieb der alte Schecke auf einmal stehen und sprach: «Hör zu, mein Junge». Lone Boy blieb vor Schrecken fast das Herz stehen, doch der Schecke sprach weiter: « Ich weiss Dir guten Rat. Nimm von diesem kühlen Schlamm hier und reibe mich damit ein, von oben bis unten, damit bekomme ich Kraft aus der Erde.» Lone Boy tat, wie ihm der Schecke geraten hatte und als er fertig war, sagte das Pferd: «Lass uns auf das Zeichen der Jäger warten.»
Kurz darauf hörte man ein Horn. Da schoss das alte Pferd wie ein Blitz davon. Bald überholte es die anderen Pferde und liess sie weit hinter sich. Bald sprang es wild in die Herde der Bisons hinein und Lone Boy spannte seinen Bogen. Er schoss und ein Pfeil traf eine alte Büffelkuh, der andere aber traf das gefleckte Kalb.
«Jetzt musst du lange nicht mehr hungern», sprach das alte Pferd und Lone Boy nahm die zwei Tiere an sich und der Schecke trug alles nach Hause als wäre es eine Leichtigkeit.
Als Lone Boy zum Stamm kam, verteilte er das Fleisch an die Armen und Hungrigen. Dann nahm er das gefleckte Fell und ging zum Häuptling. Vor dem Eingang stand die Tochter des Häuptlings und lächelte ihn an. Doch der Häuptling wollte seine Tochter niemandem geben, der nur ein altes Pferd besass. «Nur einem Helden gebe ich meine Tochter zur Frau!» rief er. Traurig ging Lone Boy zu seinem Pferd zurück, tröstete ihn und sprach: «Sie werden schon sehen, was für ein Held du bist. Nimm das Fell zu dir und habe Geduld.»
Kurze Zeit danach wurde der Stamm von feindlichen Kriegern angegriffen. Lone Boy schwang sich auf den alten Schecken und ritt mit den anderen aus, um das Dorf zu verteidigen. Der alte Schecke schüttelte seine Mähne und sprach: «Hör gut zu, was ich dir sage: Du darfst die Feinde nur viermal angreifen, kein einziges Mal mehr.»
Schon flogen die Pfeile und Lone Boy griff an. Viermal flogen seine Pfeile und er traf jedes Mal. Bald schon sahen die Krieger, wie mutig der Junge war, doch noch war der Angriff nicht zu Ende. Viermal hatte ich Glück, sagte sich Lone Boy, so wird es auch ein weiteres Mal glücken. Doch kaum griff er zum fünften Mal an, als ein Pfeil sein altes Pferd traf. Kurz darauf endete die Schlacht und die Krieger seines Stammes feierten ihren Sieg, nur Lone Boy sass allein und traurig bei seinem Schecken und jammerte: «Weshalb habe ich nicht auf Dich gehört? Ich gäbe alles dafür, wenn du nur wieder leben könntest.» Seine Tränen fielen auf das gescheckte Fell des alten Pferdes und bald begann es zu regnen. Es regnete immer mehr. Ein Sturm kam auf und fegte über die Prärie. Lone Boy duckte sich und konnte den alten Schecken im Sturmregen kaum noch erkennen. Kaum war der Sturm vorüber, als der Körper des alten Pferdes auf einmal erzitterte. Dann schüttelte und streckte es sich und stand mit einem Mal wieder auf den Füssen.
«Du hast Glück gehabt», sprach es zu dem Jungen. «Hättest du nicht so ein gutes Herz, so wäre ich für immer verloren gewesen. Doch du hast mit den Armen geteilt und deine Taten waren stärker als dein Ungehorsam.» Das Pferd schlug mit seinem Schweif und stampfte mit dem Vorderhuf, dann sprach es: «Jetzt kommt die letzte Prüfung. Du musst zehn Nächte lang warten, während ich hier auf diesem Hügel allein bleibe. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufgeht, darfst du zu mir kommen. Kommst du auch nur einmal zu früh, so wirst du alles verlieren.»
Mit bangem Herzen liess Lone Boy den alten Schecken allein zurück. Am nächsten Morgen wartete er, bis die Sonne aufgegangen war. Dann machte er sich auf zum Hügel. Doch der alte Schecke war nicht allein. An jedem Tag stand ein Pferd bei ihm. Erst ein graues, dann noch ein weisses, braunes oder goldschimmerndes, bis am zehnten Tag eine ganze Herde auf dem Hügel stand. Der Schecke nickte mit dem Kopf und sagte: «Nun sollst du deinen verdienten Platz im Stamm einnehmen.»
Da ritt Lone Boy auf seinem Schecken ins Dorf und hinter ihm folgten die prächtigen Pferde. Die Sonne glänzte auf ihren Fellen, als er vor den Häuptling trat und um seine Tochter bat. Der Häuptling schaut auf den jungen Mann und erkannte, dass Lone Boy nicht nur das gefleckte Fell erjagt hatte, er war auch ein Held geworden mit einer herrlichen Herde von Pferden. So bekam Lone Boy die Häuptlingstochter zur Frau und sie lebten glücklich miteinander und das alte Pferd blieb ihr treuer Begleiter.
aus: Kindermärchen aus aller Welt © Mutabor Verlag. Dieses Märchen ist Teil des IdeenSet Märchen der PH Bern.