Die Mohrenkönigin vom grünen Land

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Ein König hatte einen Sohn. Dieser ging eines Tages weit in die Ferne auf die Jagd. Unterwegs bekam er grossen Durst. Da sah er in der Nähe ein Häuschen stehen, ging hinein und bat um einen Trunk. Ein Mann, der dort hauste, brachte ihm ein Schüsselchen voll Milch und erzählte ihm, er habe soeben ein Söhnlein bekommen und fragte, ob er ihm Taufpate sein wolle. Der Prinz erklärte sich damit einverstanden, fand sich richtig bei der Taufe ein und nannte das Knäblein Valoroso oder auf Deutsch: Der Wackere, der Tüchtige. Dann nahm er ein Stück Papier und schrieb darauf: «Valoroso, sobald du vierzehn Jahre alt bist, darfst du zu mir auf mein Schloss kommen», und darunter setzte er seinen Namen und Wohnort.

Die Eltern des Kindes fanden beim Wischen der Stube diesen Zettel und bewahrten ihn auf. Als dann der Knabe vierzehn Jahre alt war, schickten sie ihn zu dem Prinzen, der unterdessen König geworden war. Aber der schüchterne Bauernbub schämte sich, vor den Fürsten zu treten und gab den Zettel einem andern Jungen. Der stellte sich dem König vor, und der Landesherr machte ihn, in der Meinung, es sei sein Taufkind, zum obersten Mundschenk an der königlichen Tafel.

Jetzt sah sich der arme Valoroso betrogen, ging zum Schlosspförtner und bat ihn um irgendeine Arbeit. Der fragte ihn, ob er bereit sei, die Pferdeställe zu reinigen, und der Knabe erklärte sich damit zufrieden. Sobald aber der oberste Diener bei der Tafel den neuen Stallknecht bemerkte, dachte er darüber nach, wie er ihn zugrunde richten könnte. Er ging zum König und sagte ihm, dass der junge Stallknecht geschickt genug sei, den goldenen Vogel zu fangen. Da liess der König den jungen Stallknecht zu sich kommen und sprach zu ihm: «Wenn du mir nicht in vierzehn Tagen den goldenen Vogel gefangen hast, so ist es um dich und dein Leben geschehen!»

Ganz erschrocken ging Valoroso in den Schlossgarten und fing an zu weinen. Da erschien eine alte Frau und fragte ihn, warum er wehklage. Er erzählte ihr, was der König von ihm verlange, und er wisse doch nicht, wo er den goldenen Vogel suchen müsse. Darauf entgegnete ihm die Alte: «Geh zum König, lass dir einen goldenen Käfig geben und einen langen Faden aus Gold. Dann befestige den Käfig an einem Baum im Schlossgarten und halte das eine Ende des goldenen Fadens fest. Der Vogel wird in den Käfig fliegen. Dann ziehst du flugs den Faden und machst das Türlein zu.» Und so geschah es. Der Vogel flog wirklich in den Käfig. Valoroso zog schnell am Faden, und der Vogel war gefangen. Hierauf holte er den Käfig vom Baum herunter und überbrachte das seltene Tier dem König.

Sobald der oberste Mundschenk sah, dass ihm sein Plan misslungen war, verging er beinahe vor Ärger und Zorn, begab sich wieder zum König und berichtete ihm, der Stallknecht sei imstande, die Mohrenkönigin aus dem grünen Land herbeizubringen.

Da sprach der König zum Stallknecht: «Wenn du mir in einem Jahr und einem Tag die Mohrenkönigin vom grünen Land nicht herbringst, so lass ich dir den Kopf abschneiden!»

Wieder kehrte Valoroso ganz verzweifelt in\' den Garten zurück und weinte bitterlich. Da erschien abermals jene alte Frau und fragte ihn, warum er weine. Er klagte: «Ach Gott, der König will, dass ich ihm die Mohrenkönigin aus dem grünen Land bringen solle, und ich weiss nicht einmal, wo sie sich aufhält.» Da sprach die alte Frau: «Geh zum König, verlange von ihm eine Barke von vierzig Mass in der Länge und vierzig Mass in der Breite. Dazu vierzig Musikanten, vierzig junge Mädchen, vierzig Backöfen voll Brotlaibe und vierzig Ochsen. Töte die Ochsen und behalte von ihnen nur das Fleisch und die Eingeweide; zerreibe die Brotlaibe zu lauter Krümchen, bring das alles auf dein Schiff und sprich: ,Barke, fahre fort über Länder und Meere!\', und die Barke wird dich ungehindert aller Fluten und Berge zur Mohrenkönigin führen.»

Valoroso tat, wie ihm geheissen und fuhr dann mit dem Schiff hinaus aufs Meer. Kaum war er auf offener See, so streckten drei Riesen ihre Häupter über das Wasser empor und verlangten zu essen. Valoroso warf ihnen alles Ochsenfleisch hin, und sie sättigten sich daran. Dann sprach der oberste der Riesen: «Zum Dank für deine Güte schenke ich dir dieses Schächtelein. Sobald du uns nötig hast, blase hinein, und wir sind sofort zur Stelle.» Und nachdem er so gesprochen hatte, tauchten sie wieder in die Wasserflut. Valoroso fuhr ein grosses Stück weiter auf dem Meer. Da bemerkte er, dass seine Barke ganz voller Ameisen war, die etwas zu essen suchten, und er warf ihnen die Eingeweide der Ochsen zur Nahrung hin. Darauf überreichte ihm die Königin der Ameisen ein Zauberröhrchen und sprach zu ihm: «Wenn du uns nötig hast, so blase hinein, und wir werden dir zu Hilfe eilen.»

Darnach setzte Valoroso seine Reise über das Meer fort. Auf einer einsamen Insel sah er eine grosse Schar Vögel sitzen, die von ihm ebenfalls zu essen begehrten. Jetzt warf er ihnen die vielen Brosamen hin. Als sie alle Krümchen verzehrt hatten, riss sich ein Adler eine seiner Federn aus und gab sie ihm mit den Worten: «Wenn du uns nötig hast, so reibe diese Feder, dann kommen wir sofort zu Hilfe.»

Daraufhin segelte er weiter über die schäumenden Wogen des\' Meeres und langte endlich am Palast der Mohrenkönigin an. Diese erkannte ihn und sprach: «Du musst mir zuvor drei Dienstleistungen vollbringen. Wenn du es geschickt anstellst, werde ich mit dir ziehen. Komm gleich mit mir!» Er folgte ihr und wurde in eine Kammer geführt, die ganz mit Reis-, Hirse- und Maiskörnern angefüllt war, und zwar lagen alle Sorten durcheinander. Die Königin sprach zu ihm: «Bevor der nächste Tag anbricht, musst du mir als erste Arbeit alles in drei Haufen ordnen, den ersten von Reis, den zweiten von Hirse und den dritten von Mais.»

Valoroso machte sich mit grossem Eifer ans Aussuchen. Schliesslich ging ihm aber die Geduld aus, denn die Arbeit wollte ihm keineswegs in so kurzer Zeit gelingen. Da kam ihm das Zauberröhrchen in den Sinn. Er blies hinein, und sogleich erschienen Tausende von Ameisen, welche all die vielen Körner in kurzer Zeit in drei Haufen zusammentrugen.

«So ist\'s recht», sagte die Königin zu ihm, «jetzt musst du mir das Feld der ,Sieben Stangen\' umackern und urbar machen, siehst du, jenes Feld, das vor meinem Hause liegt.»

Valoroso schreckte auch vor dieser riesigen Arbeit nicht zurück; aber es war ein hartes Stück, besonders weil das Feld in einem Tag umgegraben werden sollte. Er blies in sein Zauberschächtelchen. Im Nu erschienen die drei Riesen, jeder mit einer grossen Hacke, und im Handumdrehen hatten sie das ganze Feld umgegraben.

«So ist\'s recht», sprach wiederum die Königin, «jetzt fehlt dir bloss noch eine Arbeit. Du musst hingehen und mir die Quelle mit dem Wasser des Lebens und jene mit dem Wasser des Todes suchen. Dann füllst du damit diese zwei Flaschen und bringst sie mir, noch ehe morgen die Sonne aufgeht.»

Valoroso stieg auf einen Berg; aber er fand nichts. Da begann er die Feder zu reiben, und sogleich kam eine ganze Schar Vögel dahergeflogen. Die fragten ihn, was er wolle. Auch die Amsel gesellte sich zu ihnen und erzählte, sie sei im Wald gewesen und habe aus zwei Quellen getrunken. Das Wasser der einen lasse die Lebendigen sterben, und mit dem Wasser der andern könne man die Toten wieder auferwecken.

Da erzählte Valoroso, er sei gerade dabei, die beiden Quellen zu suchen. Sie, die Amsel, möge doch so gut sein, ihm den Weg dorthin zu zeigen. Die Amsel erfüllte seinen Wunsch, flog vor ihm her und führte ihn an die Quelle. Dort füllte er die beiden Flaschen und brachte sie der Königin zurück.

Diese hielt nun ihr Versprechen. Sie reisten miteinander fort übers Meer und langten am Königspalast an. Drei Tage lang wurden bei Hof Feste gefeiert, und alle waren zufrieden, nur nicht der oberste der Diener bei der königlichen Tafel, der vor Neid nicht wusste, was er anfangen sollte. Er lauerte seinem Nebenbuhler Valoroso heimlich auf, überfiel ihn und ermordete ihn mit einem Dolch. Als der König diese Untat sah, weinte er heisse Tränen und sprach:

Du armes Kind,

Du verdientest ein besseres Los, stattdessen fandest du den Tod.

Die Mohrenkönigin aber ging hin, schnitt den Leichnam in Stücke und goss ein wenig von dem Wasser des Lebens darüber. Da erwachte Valoroso aus seinem Todesschlaf und war so hübsch, wie kein Jüngling je vorher gewesen war. Als der betrügerische Mundschenk dieses Wunder sah, wünschte er, auch so schön und jung zu werden wie dieser. Die Mohrenkönigin willfahrte ihm, nahm ein Messer, schnitt ihn in Stücke, aber statt des Wassers des Lebens goss sie aus Versehen vom Wasser des Todes über ihn. Nun wachte der Mundschenk nicht mehr auf zum Leben, sondern war und blieb tot.

Alsdann heiratete die Königin den schönen Valoroso. So wurde dieser jetzt König und lebte in grossem Glück bis\' an sein Ende.

 

Am Kaminfeuer der Tessiner                                                              

Walter Keller                                                                                          

Hans Feuz Verlag Bern

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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