Ein König war schon seit Jahren krank. Kein Arzt wusste ein Mittel zu finden, um ihn zu heilen. Da hörte er von einem weisen Mann, der als Einsiedler in einem Walde wohne und für jegliche Krankheit ein Heilmittel wisse. Der Eremit wurde gerufen. Er kam an den Hof, untersuchte den König und erklärte, um ihn wieder gesund zu machen, brauche man die Feder des Vogels Greif. Diese müsse man im Zauberwald suchen.
Nun hatte der König drei Söhne, und er versprach demjenigen die Nachfolge in der Regierung, der ihm die Feder des Vogels Greif bringen könne.
Alle drei machten sich auf den Weg, um dieses Wunderding zu erlangen. Sie kamen in eine Stadt, wo die zwei altern Brüder sich für einige Zeit ausruhen und bei allerlei Spiel und Tanz sich belustigen wollten, indessen der jüngste ohne Rast weiterzog. Ihm war es nicht darum zu tun, der Nachfolger auf dem Königsthron zu werden. Er hatte kein anderes Bestreben, als dem Vater so schnell wie möglich Heilung zu bringen.
Wo er am Wege ein armes oder leidendes Wesen fand, tat er ihm Gutes, gab ihm von seinem Essen oder verband ihm seine Wunde.
Schliesslich gelangte er nach langer, mühseliger Reise in die Nähe des Zauberwaldes und sah dort viele Leute versammelt. Er fragte einen Hirten, was es hier neues gäbe, und dieser antwortete: «Wisst ihr es nicht, dass heute der Vogel Greif in diesen Wald geflogen kommt? Er hat Federn in allen Farben des Regenbogens. Und denkt euch, er kommt nur alle hundert Jahre. Von seinen Federn gibt er aber bloss eine her, und die schenkt er nur einer Person, die er sich selber aus der Menge aussucht. Jene Feder besitzt die Zauberkraft, jegliches Ungemach zu heilen.»
Der Königssohn dankte dem Hirten für die Auskunft und schloss sich der Schar der Leute an, die durch den Wald zogen und sich auf einer Waldwiese versammelten. Bald darauf kam auch richtig ein grosser Vogel mit Schwingen, mächtig wie ein Adler, dahergeflogen, dessen Gefieder in allen Farben wunderbar glänzte. Der Vogel kreiste eine Zeitlang über der Menge und flog zuletzt auf die Schultern des Jünglings, öffnete seinen Schnabel und sang die Worte:
Ich bin der Vogel Greif genannt,
Nach dem der König dich gesandt,
Nimm hier die Feder aus meinem Flügel,
Die Heilung bringt in Not und Übel!
Der Königssohn nahm die Feder in Empfang, worauf sich der Vogel wieder in die Lüfte schwang und den Blicken aller Zuschauer entschwand.
Hierauf kehrte der Jüngling mit seiner Zauberfeder so schnell als möglich nach Hause zurück, um seinem Vater rasch Heilung zu bringen. Sein Weg führte jedoch über weite Gebirge und durch tiefe Täler. Als er schon bald wieder zu Hause war, traf er unterwegs seine beiden Brüder an, die darüber ärgerlich waren, die Feder nicht gefunden zu haben. Voller Freude zeigte er ihnen sein Kleinod. Da wurden sie neidisch und eifersüchtig auf ihn und beratschlagten heimlich, wie sie ihn umbringen und ihn seiner Feder berauben könnten.
Auf ihrer Rückkehr mussten sie durch einen dunkeln, einsamen Pinienwald, Scivola genannt. Plötzlich gaben sich die beiden altern ein Zeichen, fielen über ihren jüngsten Bruder her, durchbohrten ihn mit ihrem Degen und brachten ihn ums Leben. Darauf nahmen sie ihm die Zauberfeder weg, legten seinen Leichnam auf den Waldboden, deckten ihn mit Laub zu und ergriffen die Flucht.
Zu Hause angelangt, heilten sie ihren Vater mit der Feder des Vogels Greif. Kaum aber war der König wieder hergestellt, so fragte er: «Wo bleibt nur mein jüngster Sohn, euer Bruder, der mich so von ganzem Herzen lieb hatte?» Und sie entgegneten: «Wir wissen es nicht. Er wollte allein des Weges ziehen; wir haben ihn sechs Tage und sechs Nächte gesucht und nirgends gefunden. Vielleicht ist er beim Durchwaten eines Flusses ertrunken, oder er hat sich verirrt. Dann wird er sicher bald wieder zurückkommen.»
Eines Tages aber geschah es, dass ein kleiner Hirtenknabe, welcher die Schafe und Ziegen hütete, in jenen Wald von Scivola geriet, wo der Königssohn umgekommen war. Er sah einen Haufen Laub und dazwischen versteckt bemerkte er einen Zweig. Er schnitt davon eine Rute ab, schälte die Rinde weg und machte sich eine Hirtenpfeife daraus. Dann hub er an zu pfeifen, und es ertönte folgendes Lied:
Mein Freund, mein Freund, ein Leid mir geschah;
Es war im Walde von Scivola.
Ein Bösewicht mich dort erschlug,
Weil ich die Greifen Feder trug.
Mit dieser seltsamen Hirtenpfeife rief er seine Schafe und Ziegen herbei und kehrte alsdann vergnügt nach Hause. Dort pfiff er allen auf seiner Flöte vor und Hess das Liedchen hören. Da meinten die Leute: «Geh hin an den Hof und spiele es dem König vor. Wer weiss, was für ein Geschenk er dir geben wird!»
Also begab sich der Hirtenknabe zum Königspalast. Der König hörte das Lied und fragte erstaunt: «Aber sag doch, bist du es, oder ist es die Pfeife, welche so singt?» Und der Knabe entgegnete: «Es ist meine Hirtenpfeife. Ich habe sie selber geschnitzt aus einem Zweig, den ich im Wald gefunden. Wenn es Euch unglaublich scheint, mein Herr und König, so versucht es selbst, darauf zu spielen.» Der König nahm die Hirtenflöte und hub an zu pfeifen. Und siehe, diesmal ertönte folgendes Liedchen:
Mein Vater, mein Vater, ein Leid mir geschah;
Es war im Walde von Scivola.
Ein Bösewicht mich dort erschlug,
Weil ich die Greifen Feder trug.
Darauf rief der König seinen ältesten Sohn herbei und hiess ihn spielen. Jetzt liess die Flöte folgendes hören:
Mein Bruder, mein Bruder, ein Leid mir geschah;
Es war im Walde von Scivola.
Du warst es selbst, der mich erschlug,
Weil ich die Greifen Feder trug.
Als der älteste Sohn diese Worte hörte, sank er vor Schrecken wie tot zu Boden. Bald darnach kam auch der zweite Sohn. Auch er musste spielen und bekam die gleichen Worte zu hören. Da wurde er grün im Angesicht vor Reue und Scham. Jetzt erkannte der Vater das Verbrechen, das sie an seinem jüngsten Sohn begangen hatten. Im ersten Zorn hätte er seine beiden treulosen Söhne beinahe zum Tode verurteilt. Doch liess er Gnade walten und sprach: «Vor kurzem ist auf meinem Landgut Saliceto der Pächter gestorben. Es ist das unfruchtbarste Gut unter meinen Besitzungen. Zieht sofort eure schönen Gewänder aus, legt Bauernkleider an, nehmt eine Hacke und geht auf dieses Landgut, um die Kühe und Schafe zu hüten, das Gras zu mähen, die Erde umzuhacken und sie mit dem Schweiss eures Angesichts zu netzen!»
Also mussten die beiden Brüder ihr väterliches Schloss verlassen und schwere Arbeit verrichten, um ihre Schuld zu sühnen. Mit der Zeit wurde es ihnen klar, dass kein Verbrechen sich auf die Dauer verbergen lässt, sondern dass es früher oder später ans Tageslicht kommt und gesühnt werden muss.
Aus: Walter Keller, Am Kaminfeuer der Tessiner, Sagen und Volksmärchen, Zürich o.J.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.