Es waren einmal drei Hühnchen. Die Mutter hiess die Weisse, ihre Kinder das Graue und das Schwarze. Die waren noch junge Hennen. Eines Tages sagte die Mutter zur Grauen: «Geh in den Wald und sammle mir ein wenig Streue, damit wir uns hineinlegen können, wenn es anfängt kalt zu werden!»
Die Graue gehorchte. Sie machte sich auf in den Wald, und kaum hatte sie die Wiese mit den vielen Blumen hinter sich und war ein Stück weit im Wald drin, da begegnete ihr ein Papiermüller. Der sprach zu ihr: «Kehr sofort zurück, denn nicht weit von hier ist ein böser gefrässiger Wolf, der würde dich sicher zerreissen.» Und das Hühnchen bat: «Ach, so mach mir doch ums Himmelswillen ein Häuschen aus Karton, damit ich mich, sobald ich den Wolf kommen sehe, darin verstecken kann. Alsdann bin ich gerettet.»
Der Papiermüller baute ihr willfährig ein Hüttchen aus Karton und Papier. Eben war die Graue im Begriffe, ein paar dürre Blätter, die sie gesammelt hatte, auf ein Häuflein zu bringen, als sie ein grimmiges Gesicht zwischen den Baumstämmen hervorlauern sah, mit offenem Rachen, worin Zähne waren, Gott, was für furchtbare Zähne! Flugs versteckte sich das graue Hühnchen in seinem Häuschen aus Karton und Papier; aber der Wolf stürzte mit zwei Pfotenschlägen jene schwachen Mauern zu Boden, packte das arme Hühnchen beim Schopf und verschlang es in einem Bissen.
Unterdessen warteten die Mutter und die Schwester voller Sorge auf die Rückkehr; aber es dauerte immer länger, und das graue Hühnchen kam nicht wieder: «Nun gut», sagte die Schwarze, «jetzt will ich in den Wald gehen und schauen, was meinem Schwesterlein zugestossen ist.» Also machte sie sich auf den Weg, spazierte an vielen Wiesenblumen vorüber und kam in den Wald. Dort begegnete sie einem Mann, das war ein Schreiner. Der sprach zu ihr: «Kehr zurück, aber schnell! Nicht weit von hier ist nämlich ein böser Wolf, und du gäbest wahrhaftig einen guten Leckerbissen für ihn.» — «Ach», sprach das Hühnchen, «mach mir doch schnell eine Hütte aus Holz, damit ich mich in der Not darin verstecken kann! Ich habe meine Schwester hier im Wald verloren und ich mag nicht von hier fortgehen, bis ich sie wiedergefunden habe.»
Der Schreiner zeigte sich gefällig und baute ihr ein starkes Hüttchen aus Holz. Unterdessen pickte und scharrte die Henne ein wenig auf dem Moosboden des Waldes. Da fand sie zu ihrem grossen Schmerz eine Feder von ihrer Schwester; aber im selben Augenblick sah sie in der Ferne zwei feurige Augen aufleuchten und darunter einen grässlichen Rachen, ganz mit Schaum bedeckt. Zitternd vor Angst flüchtete sie in ihre Hütte; der Wolf aber schlug mit seinen Pfoten, dem Maul und dem Schwanz auf das Haustein los, bis er es umgeworfen hatte, und so wurde auch die unglückliche Schwarze seine Beute, die er mit einem Bissen verschlang.
Inzwischen wurde die Mutter zu Hause immer mehr um ihre Kinder besorgt und sie dachte: «Was ist wohl aus meinen Kindern geworden? Sind sie etwa beide umgekommen? Oh, wie konnte ich so töricht sein und sie ganz allein in den Wald hinausschicken, wo so viele Gefahren auf sie lauern! Ich hätte sie doch begleiten sollen. Es wäre besser gewesen, wenn ich mit ihnen zugrunde gegangen wäre, als jetzt so allein in Angst und Kummer zu leben.»
Also machte sie sich auf die Suche nach ihren Kindern, und wie sie in das Waldesgrün eintrat, begegnete sie einem Mann. Das war ein Schmied. Der sprach zu ihr: «Um Gottes willen, kehr sofort um; denn hier im Wald haust ein grimmiger Wolf, der streift überall umher und will alles verzehren.» — «Ach, so mach mir doch schnell ein Hüttchen aus Eisen, worin ich mich verbergen kann. Ich habe in diesem Wald meine beiden Kinder verloren und gehe nicht fort, bis ich sie wieder gefunden habe.»
Der Schmied tat ihr den Gefallen und baute ihr ein Häuslein von Eisen. Mittlerweile spazierte die Henne auf dem Grasteppich des Waldes umher und siehe, da lagen richtig auf dem Moos einige graue und schwarze Federn von ihren lieben Kindern. Bald darauf sah sie zu ihrem Entsetzen in der Ferne ein dunkles braunes Tier auftauchen, mit funkelnden Augen, grimmigem Blick und zwei hoch aufgerichteten Ohren. Beinahe vom Schlag getroffen, flüchtete sie in die eiserne Hütte. Der Wolf kam herangesprungen und versuchte, das Häuslein niederzureissen, aber wahrhaftig, diesmal war es haltbar gebaut und mit vorstehenden Nägeln und Eisenspitzen versehen. Er versuchte es mit dem Maul, mit dem Rücken und mit den Pfoten; jedoch vergeblich. Statt die Henne zu erreichen, zerkratzte er sich den ganzen Leib und blutete aus vielen Wunden. Voller Ingrimm nahm er einen Sprung gegen die eiserne Hütte, erhielt aber dabei eine tiefe Wunde von einem Nagel und Hess, nun vom Angriff ab. Halb tot legte er sich etwas abseits auf den Waldboden an die Sonne und spähte dort, ob die Henne aus dem Haus herauskäme, damit er sie packen könnte. Trotz seinen Schmerzen überfiel ihn jedoch der Schlaf, so dass er bald schnarchend dalag. Als die Henne das bemerkte, rannte sie auf ihn los, pickte ihm mit dem Schnabel den Leib auf und zerstückelte ihm mit scharfen Hieben das Herz, bis der Wolf tot war. Alsdann fand sie in seinem Bauch noch ihre beiden Kinder lebendig. Da war die Freude des Wiedersehens gross. Sie kehrten alle drei froh nach Hause zurück und dachten ihr Lebtag daran, nicht mehr so unvorsichtig zu sein. Aber ehe sie in ihren Hühnerstall zurückkehrten, sagten sie noch dem guten Schmied, der sie gerettet hatte, schönen Dank.
Am Kaminfeuer der Tessiner
Walter Keller
Hans Feuz Verlag Bern
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.