Die böse Stiefmutter

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es war einst eine Stiefmutter, die hatte zwei Töchter. Davon war die eine schön und gut, die andere aber hässlich und schlecht. Die schöne und gute hiess Truda, war aber nicht ihr eigenes Kind; die andere dagegen, namens Fiorina, die hässliche, galt bei der Mutter alles und war ihr Liebling.

Eines Tages sagte die Stiefmutter zu Truda: «Geh heute mit den Kühen hinauf auf die Weide, und während sie grasen, musst du mir diese Seide spinnen.» Das Mädchen gehorchte. Während es mit den Kühen fortzog, sagte es jedoch zu sich selbst: «Wie soll ich es anfangen, so viel Seide zu spinnen?»

Am Mittag erschien ein altes Mütterchen. Das war eine Fee und fragte sie, ob sie ihr das Haar kämmen wolle. Und Truda gab zur Antwort: «Ich würde dich gern kämmen, aber ich darf nicht aufhören zu arbeiten, schau, ich muss all diese Seide noch fertigspinnen.»

Die Fee antwortete: «Winde die Seide auf die Hörner der Kuh, sie wird es dir spinnen!» Also kämmte das schöne Mädchen die Fee und fand auf ihrem Kopf Gold und Diamanten, welche es von ihr als Geschenk erhielt. Dann sprach die Fee: «Sobald du mit dem Kämmen in der Mitte des Scheitels bist, so kehre dich nach rückwärts.» Truda tat wie geheissen, wandte sich zurück, und da fiel ihr ein goldener Stern mitten auf die Stirn. Die Fee aber war plötzlich verschwunden, und die Kuh spann ihr die ganze Seide fertig.

Die Stiefmutter hatte schon einen Stock bereitgelegt, um das Mädchen zu schlagen, denn sie glaubte,, es hätte die Arbeit nicht fertiggebracht. Jetzt sah sie zu ihrem Erstaunen, dass alle Seide bereits gesponnen war. Noch mehr verwunderte sie sich über den schönen Stern, den das Mädchen auf der Stirne trug, und das Gold und die Diamanten, die es nach Hause brachte. Dann erzählte Truda, wie sie zu diesen Kostbarkeiten gekommen war.

Jetzt schickte die Stiefmutter ihre eigene Tochter, die hässliche Fiorina, auf die Weide, damit sie ebenfalls die Kühe hüte, und diese ihr die Seide spinnen sollten. Kaum war Fiorina auf dem Anger angelangt, so band sie die Seide den Kühen auf die Hörner. Die Tiere aber, zerstampften die Seide und streuten sie überall umher, statt sie zu spinnen. Gegen Mittag erschien ein alter hässlicher Mann. Das war der Teufel. Der sagte zu dem Mädchen, sie solle ihn kämmen. Sie tat es, aber statt Gold und Edelsteine fand sie bloss Skorpione und Läuse auf seinem Kopf. «Sobald du mit Kämmen in der Mitte des Scheitels bist, so musst du dich nach rückwärts kehren», sprach der Alte. Sie tat, wie ihr geheissen, aber statt eines goldenen Sternes fiel ihr ein Kuhfladen auf die Stirn.

Voller Entrüstung kehrte die hässliche Tochter ohne die Seide nach Hause zurück. Als die Mutter sie in solchem Zustand heimkommen sah, machte sie sich schnell ans Werk, das Mädchen zu waschen. Aber sie konnte ihr Gesicht auf keine Weise sauber bringen.

Einige Tage später schickte die Stiefmutter die schöne Truda an den Ziehbrunnen, um mit einem Eimer aus Blech Wasser zu schöpfen. Als sie jedoch den Eimer aus der Zisterne heraufziehen wollte, fiel er ihr wieder ins Wasser hinunter. Da stieg sie selbst hinab in die Tiefe, um ihn zu holen. Sie begegnete dort unten zwei Kätzlein und sagte freundlich zu ihnen:

Kätzlein, hübsche Kätzchen mein, Wo ist, wo liegt mein Eimerlein?

Und sie gaben zur Antwort: «Steig noch ein wenig tiefer hinunter, dann wirst du den Eimer finden.» Also stieg sie noch weiter hinab und fand da wieder zwei Kätzchen, denen sie die gleiche Frage stellte. Und sie gaben zur Antwort:

Wir haben gefunden dein Eimerlein, Sieh her, es ist aus Gold gar fein.

Mit diesen Worten übergaben sie ihr einen schönen Eimer aus reinem Gold. Ganz zufrieden stieg Truda aus dem Brunnen heraus, kehrte sogleich nach Hause zurück und berichtete ihrer Stiefmutter alles. Diese schickte sogleich ihre eigene Tochter auch hinaus an den Brunnen, um Wasser zu schöpfen. Fiorina gehorchte. Sie Hess absichtlich den goldenen Eimer in die Tiefe fallen und stieg dann selbst hinab, um ihn zu holen. Die Kätzchen schickten sie aber immer weiter hinunter, immer tiefer hinab in den Brunnen. Schliesslich fielen sie über das Mädchen her, zerkratzten es im Gesicht und am Hals, nahmen ihm den goldenen Eimer weg und gaben ihm denjenigen aus Blech zurück.

Als die Stiefmutter ihr eigenes Kind in solch erbärmlichem Zustand zurückkommen sah, überhäufte sie die schöne Truda mit Schimpf- und Schmähworten. Dann Schloss sie diese in ein Kämmerchen ein mit der Absicht, sie dort Hungers sterben zu lassen.

Bevor aber die schöne Truda hineinging, steckte sie heimlich einen Apfel, den ihr die Kätzchen geschenkt hatten, in den Grund des Gartens. Aus diesem wuchs in wenigen Tagen ein Apfelbaum voll prächtiger Früchte, dessen Äste bis an das Fenster ihres Kämmerleins reichten. Und wenn sie Hunger hatte, pflückte sie die Äpfel und ass davon.

Um diese Zeit ging der Königssohn am Hause vorüber. Er sah die schönen Äpfel mitten im Winter und wünschte einen davon zu haben. Aber niemand konnte auf den Baum steigen. Da sprach die Stiefmutter zum Baum:

Bäumchen, Bäumchen, Neige dich!

Doch der Apfelbaum neigte sich nicht. Dann rief sie ihre Tochter Fiorina herbei. Auch diese wiederholte den Spruch, allein es war vergebliche Mühe. Der Apfelbaum neigte sich nicht. Jetzt rief sie die schöne Truda ans Fenster, und kaum hatte das Mädchen die Worte ausgesprochen, so neigte sich der Baum gegen ihr Fenster. Sie pflückte einen Apfel und überreichte ihn dem Königssohn. Dieser nahm das Geschenk an, gewann das wunderschöne Mädchen lieb und sprach: «In einer Woche komme ich in meiner Kutsche, um dich heimzuführen.»

Und als die acht Tage vorüber waren, kam die königliche Karosse in der Tat vor das bescheidene Häuschen der Stiefmutter gefahren. Diese hätte gar zu gern den Prinzen hintergangen und ihm statt der schönen die hässliche Tochter zur Frau gegeben. Aber der Königssohn merkte ihre Absicht. Truda trat ans Fenster und Hess sich an dem Apfelbaum hinuntergleiten. Der Fürst fing sie auf in seine Arme und trug sie glückstrahlend in seine Karosse.

Dann fuhr er mit ihr in sein Schloss, während die böse Stiefmutter vor Gift und Neid beinahe verging und die hässliche Fiorina umsonst über ihr Unglück jammerte.

 

Am Kaminfeuer der Tessiner                                                              

Walter Keller                                                                                          

Hans Feuz Verlag Bern

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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