Nun schneit es schon den ganzen Tag. Der Himmel ist dunkel, und die arme kleine Maria ist müde wie noch nie. Es ist schon so lange her, dass sie ihre Mutter sucht, ihr liebes gutes Mütterlein. Aber der Wind flüstert dem Kinde mit traurigem Tone zu, als wollte er sagen: «Arme Kleine, dein Mütterchen ist gestorben, es ist tot. Suche es doch, liebes Kind, nicht in der Ferne, sondern auf dem kürzesten Wege. Schau, dort auf dem Friedhof ruht es und schläft.»
Und der Schnee fällt langsam und unaufhörlich in dichten Flocken. Welche Stille ringsumher im Tal. In Weiss liegt alles eingehüllt. Die kleine Maria trippelt mit ihren kalten Füsschen mühsam durch den hohen, weichen Schnee.
Wie stechend kalt es ist! Aber auch im Hause der Tante Beatrice war es kalt und unfreundlich. Und dann taten der Kleinen die groben und knochigen Hände des Onkels Antonio weh, wenn er ihr Schläge gab auf den Kopf. Und Olga war oft so böse mit ihr, zog sie immer am Zopf und sagte: «Du Hässliche! Du bist ein garstiges Ding, Maria! O wie hässlich, wie faul und nichtsnutzig du bist, und issest bei uns das Gnadenbrot!»
Was ist auch der lieben Mutter in den Sinn gekommen, zu sterben? Ihrem guten Mütterlein, das sie nie schlug, sondern sie liebkoste und sie beim Zubettegehen küsste, das ihre Hände in den seinigen wärmte, wenn sie kalt hatte, und das ihr alle Tage heisse Polenta gab mit köstlicher Milch. Aus diesem Grunde also wollte Maria nach Hause zurückkehren, zu ihrer treubesorgten Mutter, die sie gewiss suchte. Und wie sonderbar, sie weinte, als sie auf dem Totenbett ihr Kind zum letzten Male sah.
Maria wusste den Weg nach Hause. Es war weit, weit. Aber dort wartete ja das Mütterchen, und ferner ein lustiges Feuer und die dampfende Suppe auf dem Tisch mit der Milch und den grossen feinen Bohnen!
Der Wind heulte unheimlich wie eine Eule durch die kahlen Bäume. Der Schnee fiel immer höher, der Himmel wurde noch dunkler, und das Heimatdorf war noch immer nicht zu sehen. O Mütter, gute liebreiche Mütter, wie könnt ihr nur sterben! Ohne euch sind die armen Kinder so verlassen in der Welt! Wie lang er-scheint ihr jetzt die schneebedeckte Strasse, und die Kleine ist so müde und friert. Schau, nun. wird es Nacht.
Schon zeigte sich am Himmel ein grosser Stern, der aussah wie das liebevolle Auge einer Mutter. Maria konnte nicht mehr weiter. Sie setzte sich auf den Schnee unter zwei alte, hohe Tannen und schloss die Augen, die so viel geweint hatten, wobei sie mit ihrem dünnen Stimmchen lispelte: «Die Mutter wird sicher kommen, sie kommt mir entgegen, mich zu holen.» Dann schlief sie ein.
Nach einer Weile fühlte Maria, wie" ihre Hand, die sie auf den Schnee stützte, von zwei warmen, weichen Händen gefasst wurde, und sie rief: «O Mutter!» Aber nein, es war nicht das gute Mütterlein. Es war ein wunderschöner Engel mit blauen Augen und goldenen Flügeln.
«Komm, Maria, die Mutter erwartet dich!» sprach die Engelsgestalt. Und indem sie das Kind immer an der Hand hielt, führte sie es weit, weit hinauf gegen den grossen Stern, der immer heller strahlte wie das Auge einer Mutter, die ihr hilfloses Kind liebevoll betrachtet.
Maria war jetzt versorgt. Am Orte aber, wo die Hand der Kleinen im Schnee geruht hatte und vom Engel berührt worden war, schmolz der Schnee, und es erblühte eine bleiche und schöne Blume. Sie wurde das Schneeglöcklein oder die Marienblume genannt. Maria aber hatte droben im Himmel ihr Mütterlein wieder gefunden und war glücklich, während der Schnee immer dichter auf die kalte Erde fiel.
Die Bergbewohner versichern, dass bei den Tannen, halbwegs auf der Strasse von Prato nach Dalpe, jedes Jahr ein Schneeglöckchen hervorwächst, das grösser und schöner ist als alle andern, offenbar der Maria zu Ehren.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.