Das Urteil des Landvogts

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Es war im Monat April des Jahres eintausendfünfhundertundfünfzig. Da machte sich ein Bauer namens Pietro aus Faido, einem Dorf des oberen Livinentales, daran, einige Bäumchen, die auf der rechten Seite des Tessin Flusses standen, zu fällen, und weil er dem Ufer zu nahe kam, fiel er plötzlich in den Fluss. Das hatte ein Bauer mit Namen Lorenzo aus demselben Dorfe beobachtet, als er mit seiner Egge über das Feld fuhr. Er eilte mit einem eisernen Rechen herbei und bemühte sich so lange, bis es ihm gelang, den Ertrinkenden ans Ufer zu ziehen, wobei der Gerettete allerdings durch den Rechen eine böse Schramme im Gesicht bekam, die ihn völlig entstellte.

Der verunglückte Pietro wurde von seinem Retter Lorenzo liebreich und mit aller Sorgfalt in sein Haus gebracht, wo er einige Tage krank war und sich pflegen lassen musste.

Während aber Pietro im Bette lag, dachte er bei sich: «Mein Dorfgenosse hat mir das Leben gerettet. Das ist vollkommen wahr. Aber er hat mir mit seinem dummen Rechen eine Schramme im Gesicht beigebracht, die ich jetzt mein Lebtag werde haben müssen. Übrigens hat er viel Geld, das sagen alle im Dorf. Was könnte es ihm also ausmachen, mir eine Entschädigung zu zahlen? Aber was würden die Leute im Dorf von mir sagen, wenn ich mit einer solchen Forderung käme? Man würde mit dem Finger auf mich zeigen als auf den schwärzesten aller Undankbaren. Und sie hätten nicht Unrecht. Um aber zu erlangen, was ich wünsche, müsste man eine gesetzliche Handhabe besitzen .. . Aha, jetzt hab\' ich es gefunden, das Gesetzbuch räumt eine Entschädigung ein für eine Schramme!»

Kaum konnte Pietro das Bett verlassen, so begab er sich mit dem noch verbundenen Gesicht zum Landvogt und verklagte seinen Landsmann wegen des zugefügten Schadens. Der Landvogt erkundigte sich genau bis in alle Einzelheiten über den ganzen Hergang und sagte dann zu Pietro: «Ich werde den Mann herbeirufen lassen, der dich verwundet hat, und es soll dir Gerechtigkeit widerfahren.»

Immerhin machte die sonderbare Anklage auf den Landvogt einen merkwürdigen Eindruck.

Pietro und Lorenzo wurden also vor Gericht gerufen und erschienen vor dem Landvogt. Dieser wandte sich an Pietro und sprach zu ihm: «Du bist also unglücklicherweise in den Tessin gefallen. Du hättest dich vielleicht allein retten können. In diesem Falle hätte dein Landsmann ein unnützes Werk vollbracht, wenn er dich aus dem Wasser zog, und dann hätte er dir die Schramme im Gesicht nicht beigebracht. — Es hätte aber auch so herauskommen können: Wenn dein Nachbar dir nicht zu Hilfe geeilt wäre, so wärest du, unfähig, die Kraft der Wellen zu überwinden, dabei umgekommen. Nun, welcher von den beiden Fällen hätte passieren können? Das kann jetzt niemand sagen. Darum, ihr Häscher — und damit wandte er sich an seine Sbirren —, nehmt diesen Mann da, führt ihn auf die Brücke und werft ihn in den Tessin. Wenn jetzt du, Pietro, ohne irgendwelche Hilfe dich retten kannst, so ist es immer noch frühzeitig genug, das Urteil zu sprechen, wer Recht hat. Ertrinkst du aber, so bekommst du das, was du verdient hast!»

Als Pietro diesen schrecklichen Urteilsspruch vernahm, wurde er ganz bleich. Dann kniete er vor dem gestrengen Richter nieder und bat um Gnade. Der Landvogt aber fuhr fort: «Für dieses Mal will ich dich nicht auf die Probe setzen. Doch verurteile ich dich, diesem deinem Retter innerhalb acht Tagen zehn Taler zu bezahlen. Falls es dir scheint, dein Leben sei nicht diese Summe wert, so werden wir dich gleichwohl in den Tessin werfen lassen.» — Demütig erklärte sich Pietro mit diesem Urteil einverstanden. Und während er voller Scham und Schande nach Hause zurückkehrte, sagte er zu sich unter Seufzern: «Es geschieht mir eigentlich recht. Das ist der Lohn für meine Undankbarkeit.»

 

Am Kaminfeuer der Tessiner                                   

Walter Keller                                                         

Hans Feuz Verlag Bern

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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