Einmal, es ist schon lange her, da hiess es, im Zmuttal hinter Zermatt, sei ein Bär in die Schafalp eingebrochen. Die Tiere taten ganz wild und konnten nur mit Mühe beieinander gehalten werden, obschon er noch keines angefallen hatte. Er begnügte sich einstweilen damit, das fette Gras grob abzuweiden und die Stalltüren zu zerkratzen. Mit Holzscheiten, Melkstühlen, Spiessen und andern Landsturmwaffen rückten die Bauern in aller Eile aus und sahen, wie ein riesiger brauner Bär hungrig die ängstlich blökende Herde vor sich her jagte. Als der Bär die Leute sah, trabte mit grimmigem Gebrumm auf sie los. Den Zmuttern, die noch keinem Mutz hinter die Ohren geschossen, wurde heiss unter den Drilchkitteln. Da ergriff ein Bauer eines der Lämmer und warf es dem Untier hin mit den Worten: „Da friss dieses! Ich geb‘ es dir, aber lass die übrigen in Ruh!“ Und der Bär packte das Schäfchen mit den Zähnen am Nacken, trug es hurtig davon und kam nicht mehr zum Vorschein.
Einige Jahre später ging jener Bauer einmal nach Sitten auf den Jahrmarkt. Da sprach ihn ein Fremder in feinem Rock ganz vertraut an und lud ihn gleich zum Mittagessen ein. Der Zermatter lehnte verwundert ab, der Herr müsse sich in seiner Person irren; er kenne ihn nicht und könne darum auch nicht mit ihm handeln. Allein der freundliche Städter liess sich nicht abweisen, sondern nahm den Widerstrebenden ohne Umstände mit sich nach Hause und bewirtete ihn dort aufs Beste.
Eigenhändig schenkte er dem Bauer würzigen Muskateller ein und nötigte ihm ein saftiges Stück Schafbraten auf. Dann hob er sein Glas, um mit ihm anzustossen, und sagte: «Damit Sie’s wissen, mein Freund, ich schulde Ihnen grossen Dank. Vor Jahren lebte ich unter dem argen Zwang, dass ich von Zeit zu Zeit die Gestalt eines Bären annehmen musste, um Menschen und Tiere zu schrecken und zu schädigen. Wenn diese Wut über mich kam, hatte ich umso mehr Freude daran, zu ängstigen, je hitziger man mich verfolgte. Einmal aber ging es anders. Da haben Sie mir aus freien Stücken ein Lamm geschenkt, und damit war der schlimme Zauber gebannt. Ihre Güte hat mich gewandelt. Von der Sucht, Unheil anzurichten, befreit, bin ich ein glücklicher Mensch geworden, und das danke ich Ihnen!»
Quelle: A. Büchli, Schweizer Sagen, 1940, sprachlich leicht gekürzt und bearbeitet