Die weisse Dame von Rouelbeau

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Die Geschichte, die ich euch erzählen will, habe ich nicht selbst erfunden ... Leider! Denn ich bin einen Monat zu spät zur Welt gekommen, und alle Geschichten wa

Es war einmal eine arme Witwe, die leb­ te zusammen mit ihrem Sohn in einem kleinen Haus vor den Toren der Stadt Genf. Ihr Junge, etwa sechzehn Jahre alt, war ein braver Bursche, der seiner Mutter half, wo und wie er konnte. Er bewarb sich in den Häusern der Nachbarschaft um Arbeit; aber die Zeiten waren hart, die Leute hatten kein Geld, und es war schwierig, einen Verdienst zu finden. Schon bald war Weihnachten, und der Speiseschrank war leer.

«Nur eine Brotkruste und ein Stück Speck bleiben uns als Weihnachtsessen», seufzte die Mutter.

«Vielleicht finde ich noch einen Kohlkopf im Garten, das würde wenigstens eine warme Mahlzeit geben.»

«Höre, liebe Mutter», sagte da der Sohn, «ich nehme Vaters Gewehr und gehe damit in die Sümpfe. Es müßte doch der Teufel im Spiel sein, wenn ich nicht eine Ente, einen Hasen oder ein anderes Wild erlegen und nach Hause bringen würde»

Die Mutter bekreuzigte sich: «Sprich nicht vom Teufel, wenn's nicht sein muß - er könnte uns einmal einen Streich spielen! Und nun geh, aber gib acht, daß du dich nicht zu den Mauern des Schlos­ ses Reuelbeau verirrst. Man erzählt sich, daß keiner, der sich leichtsinnig in der Nacht vor Weihnachten dort herumgetrieben habe, je wieder zurückgekehrt sei,»

«Mach dir keine Sorgen, liebe Mutter! Ich komme nach Hause, noch bevor es Abend wird»

Der Junge umarmte seine Mutter, nahm das Gewehr seines Vaters vom Haken, hängte es sich um und ging. Und er marschierte den langen Weg bis zu den Sümpfen, die zugefro­ ren waren. Dort versteckte er sich und warte­ te auf Wild. Die Stunden verstrichen, aber weder ein Hase noch ein Reh, noch ein Wasservogelließ die Büsche oder das Schilf erzit­ tern. Der Junge verließ sein Versteck und ging weiter, immer weiter; doch achtete er dabei auf jedes Geräusch, auf die kleinste Bewegung. Er sah und hörte nichts. Alles war weiß und grau um ihn; kein Windhauch war zu spüren - man hätte glauben können, er gehe durch eine Urlandschaft am Ende der Welt.

Die Nacht brach herein, ohne daß er es bemerkte, und ohne sein Wollen näherte er sich dem verwunschenen Schloß. Als er erfaßte, wo er sich befand, packte ihn die Angst. Aber dann dachte er an seine Mutter, die schon seit langem keine gute Mahlzeit mehr gehabt hatte.

 

«Koste es, was es wolle: ich muß heute noch ein Wild erlegen können. Vielleicht hat ein Hase oder ein Rehbock sich in diese zer­ fallenen Mauern geflüchtet, um Schutz vor der Kälte zu suchen»

 

Er kletterte einen steilen Weg hinauf, der auf die Ringmauer zuführte. Als er den Hauptturm der Burg erreichte, hörte er von einem weit entfernten Kirchturm zwölfmal schlagen - Mitternacht.

Jetzt erinnerte der Bursche sich der Warnungen seiner Mutter und wollte umkehren. Da traf ihn ein eiskalter Lufthauch, der ihn schaudern machte. Es war ihm, als ob sein Blut gerinnen würde und seine Kopfhaare sich geradeauf stellten. Im Dunkel erspähte er einen weißen Schatten, der aus dem Turm trat und der entsetzliche Seufzer ausstieß. Das Gespenst streifte ihn, dann glitt es aus dem Gemäuer und verschwand. Der junge Mann versuchte zu fliehen, aber er konnte seine Füße nicht vom Boden lösen. Das Ge­ spenst kehrte zurück, nachdem es um das ganze Schloß geirrt war, und blieb vor dem Burschen stehen:

«Was suchst du in meinem Reich, mein Junge? Weißt du nicht, daß die Nacht des Christfestes den Abgeschiedenen gehört?» «Wer ... wer sind Sie?» stammelte der Bursche.

«Ich bin die weiße Dame von Reuelbeau.

Zu einer Zeit, an die niemand auf Erden sich mehr erinnert, bewohnte ich dieses Schloß. Seither wache ich über die Gräber meiner Angehörigen und bewache ihre vergrabenen Schätze. Aber nun ist die Reihe an dir, mir zu antworten: weshalb bist du heute nacht hier?»

«Euer Gnaden», sagt der Jüngling ehr­ fürchtig und zieht seine Mütze ab, «meine Mutter und ich sind arme Leute, so arm, daß wir heute, am Heiligen Abend, zum Nachtes­ sen nur eine Brotkruste, ein Stücklein Speck und einen Kohlkopf hatten, wahrhaftig we­ nig für ein Festmahl. Ich bin mit dem Gewehr meines Vaters ausgezogen und habe ge­hofft, in dieser Gegend ein Wild erlegen zu können; aber alles scheint heute tot zu sein. Ich habe solchen Kummer um meine Mutter, und ich darf nicht unverrichteter Dinge nach Hause kommen»

«Tapferer Junge! Komm mit! Ich will dir ein Weihnachtsgeschenk geben. Aber erzähle niemandem, was du jetzt sehen wirst; denn du bist jetzt und in Zukunft der einzige, den ich schone»

Eine eiskalte Knochenhand ergriff den Arm des Jungen, und die weiße Dame zog ihn mit sich in den Turm; dort stiegen sie eine wacklige Wendeltreppe mit wurmstichigen Stufen hinunter und hielten vor einer steinernen Türe an. Der Geist berührte zwei Ein­ kerbungen, die in den Stein gehauen waren, und der Felsblock drehte sich, leicht wie eine Feder.

«Geh hinein und nimm soviel du brauchst für deine Mutter und für dichl» sag­ te das Gespenst und schob ihn in einen Saal, der von vielen Kerzen erhellt war. Mitten in diesem Saal stand eine Truhe, bis obenhin gefüllt mit Gold und Silber. Der Jüngling füllte seinen Jagdsack, seine Taschen und seine Mütze.

«Geh nun», sagte die Dame, «und wende das Geld gut an. Leb wohl, mein Junge!»

Die steinerne Türe schloß sich mit einem Krachen hinter dem Burschen, der sich plötz­ lich allein am Fuße der Turmtreppe befand. Schnell kletterte er hinauf, stieg den Hügel hinab und rannte durch die zugefrorenen Sümpfe. Es wurde eben Tag, als er zu Hause ankam. Seine Mutter war außer sich vor Un­ ruhe; als er das Haus betrat, weinte sie vor Freude und dankte dem Himmel, daß sie ih­ ren Sohn wieder hatte. Sie war indessen nicht allein; ein reicher, unverheirateter Vetter war gekommen, um mit ihr Weihnachten zu fei­ ern. Er hatte ein Masthühnchen und einige Flaschen Wein mitgebracht.

«Mutter, Mutter! Schau, was ich für dich  gefunden habe! Fröhliche Weihnacht, mein Mütterchenl» rief der Junge und schüttete den Inhalt seiner Taschen und seiner Mütze auf den Tisch.

«Großer Gott, wo hast du das her?»

«Ich bin durch die Sümpfe gegangen und war ganz verzweifelt, daß ich dir nichts heim­ bringen könne. Alles war wie tot, unheim­ lich und still; man hätte glauben können, der Jüngste Tag sei angebrochen. Ich hatte mich in einer großen, hohlen Weide versteckt, um dort auf Wild zu lauern. Plötzlich hat der Boden unter meinen Füßen nachgegeben, und in dem Loch habe ich diesen Schatz entdeckt, der da wohl einmal von einem Dieb versteckt worden war.»

Der Vetter nahm ein Goldstück vom Tisch und betrachtete es genau.

«Das muß ein sehr alter Schatz gewesen sein, den du da entdeckt hast. Diese Münzen sind ja einige hundert Jahre alt,»

Die Mutter, müde von der angstvoll durchwachten Nacht, ging hinauf, um sich schlafen zu legen. Nun schenkte der Besu­ cher dem Jungen ein Glas Wein ein und sagte:

«Nachdem wir jetzt allein und unter uns Männern sind, kannst du mir wohl die Wahr­ heit sagen, Vetter, wo hast du diesen sagen­ haften Schatz gefunden?»

«Unter der hohlen Weide, genau wie ich

es schon erzählt habe», erwiderte der Junge.

Aber der Wein bringt die Geheimnisse an den Tag; der Vetter gab dem Burschen wieder und wIeder zu trinken, bis er schließlich alles erzählte: vom Schloß, von der weißen Dame, von der Treppe im Turm, von der Truhe voller Gold.

Schon am nächsten Tag ging der Vetter mit einem Pickel, einer Lampe und vielen leeren Säcken zum Schloß von Reuelbeau. Er fand die wacklige und zerfressene Treppe und die steinerne Türe; aber trotz allen seinen An­ strengungen ließ die Steinplatte sich nicht um Haaresbreite bewegen. Dann entdeckte er die Kerben, legte seine Hände hinein - umsonst.

Er versuchte Boden aufzuhacken, um unter dem Steinblock hindurch zu kommen aber sein Pickel zerbrach auf dem Felsen. Er mußte sein Unternehmen aufgeben, aber er ließ die Säcke zurück.

«An Weihnachten komme ich wieder - nächstes Jahr: und dann werde ich sie füllen.»

Das ganze Jahr hindurch überdachte er alle Möglichkeiten und Kniffe, um so viel Gold wie nur möglich aus dem Schloß weg­ schleppen zu können. Woche um Woche brachte er neue Säcke ins Schloß; schließlich auch einen Schubkarren ...

Endlich war wieder Weihnachten. Er zog ärmliche Kleider an, und lange vor Mitter­ nacht stand er schon vor dem Schloßturm. Als es vom Kirchturm zwölfmal schlug, blies ein eisiger Luftzug in sein Gesicht: ein weißes Gespenst trat aus dem Turm, es stöhnte ent­ setzlich, es streifte ihn; dann glitt es aus dem Schloß und verschwand. Ungeduldig wartete der Vetter auf die Rückkehr des Geistes. Die weiße Dame hielt vor ihm an:

«Was hast du auf meinem Besitztum zu suchen, Lebender? Weißt du denn nicht, so alt wie du bist, daß die Heilige Nacht den Ab­ geschiedenen gehört?»

«Ich weiß es, schöne Dame, aber ich bin so arm, daß ich hoffte, Ihr könntet mir hel­fen.»

«Wirklich, so arrn?» fragte die weiße Dame und musterte den Mann, der vor ihr niedergekniet war.

«Laß dir sagen, daß ein Zuviel an Gütern den Hals zuschnürt. Komm mitl»

Mit ihrer eiskalten Knochenhand packt sie den Habgierigen am Arm und zieht ihn

mit sich zur Treppe im Turm. Sie berührt nur leicht die Kerben in der Steinplatte, und diese dreht sich und gibt den Blick frei auf den von Kerzen erleuchteten Saal, in dessen Mitte eine alte Truhe steht, übervoll mit Gold und Silber. Beim Eintreten nimmt der Vetter heim­ lich die Säcke und den Schubkarren mit in den Saal, die er vor der Türe bereitgelegt hat­ te. Nun taucht er seine Hände in den Schatz. Die Truhe scheint unerschöpflich zu sein - sie füllt sich im gleichen Maße, wie er weg­ schöpft. Plötzlich ertönt die Grabesstimme der weißen Dame:

«Habgieriger Mensch, deine Stunde ist abgelaufen.»

Und krachend schließt sich die steinerne Pforte.

Zweifellos ist der Vetter noch dort unten und füllt seine Säcke mit dem Gold und dem Silber der Herren von Reuelbeau. Man hat ihn nie wieder gesehen, und auch die weiße Dame ist nie wieder in ihrem Schloß erschienen.

Die Witwe und ihr Sohn kauften sich von dem Schatz einen Bauernhof und einige Kühe, und seither war das Elend nie mehr bei ihnen zu Gast.

Ich habe euch diese Geschichte erzählt, aber unsere Vorfahren haben sie erfunden.

 

Sage von Genf

 

Erzählt von Jean Bahut 1870 und von Gustave Dusseilier 1902 veröffentlicht. Aus: Die schönsten Märchen der Schweiz,, E. Montelle, R. Waldmann, 1987

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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