Unweit von Klosters hauste einst ein Fänggenmannli. Es hiess überall „der Geissler“. Denn es hatte der Gemeinde, schon länger als sich die Ältesten zurückerinnern konnten, für einen geringen Lohn an Ziger und Käse die Geissen gehütet. Die Leute gaben ihm diesen Lohn noch so gern, weil die Ziegen alle Abende so voll und feisst heimkamen und so viel Milch gaben, dass am Ende des Jahres ganze Wagenladungen voll Käse verkauft werden konnten.
Am Morgen früh trieben ihm die Leute ihre Geissen bis zu einem grossen Felsblock an der alten Davoserstrasse, dem Geisslerstein. Dort erwartete das Männlein die Herde, schwang seinen Stecken und trieb sie weiter auf die Weide. Man wusste aber nicht wohin. Und am Abend, wenn die Sonne hinter den Bergen des Prättigaus untertauchte, fanden sich alle wieder mit strotzenden Eutern fröhlich meckernd beim erwähnten Stein ein. Etwas aber mutete einen sonderbar an: Der Geissler pflegte wohl mit den Ziegen zu reden, sie verstanden ihn und folgten ihm aufs Wort - nur mit den Menschen sprach er nie ein einziges Wort. Stumm übernahm er morgens die Tiere, stumm lieferte er sie abends wieder ab, stumm kam er jeden Herbst am Zahltag zum Steinblock und nahm Käse und Zieger entgegen, die man ihm ebenfalls stumm hinlegen musste.
Dieses ewige Schweigen verdross die Leute mit der Zeit. Da beschlossen vorwitzige Burschen, ihn einzufangen und zum Reden zu bringen. Sie versteckten sich eines Abends beim Geisslerstein und sprangen, als er nahe genug war, miteinander auf ihn los. Aber das Männlein warf mit wenigen starken Stössen den einen da hin und den anderen dort hin. Als sie alle am Boden lagen und stöhnend und schimpfend aufstanden, eilte der Kleine wie der Wind dem nahen Wald zu, ohne dass er ein Wort gesagt hätte.
Am anderen Tag trieben die Leute ihre Ziegen wieder zum Stein.
Der Geissler war nicht da. Sie warteten und warteten, der Geissler kam nicht. Da machten sie aus, dass nun diejenigen die Geissen zu hüten hätten, welche ihm Gewalt angetan haben. So wurde es dann auch gehandhabt. Aber, o je, die Ziegen brachten nicht mehr halb so viel Milch heim. Und nach einer Weile beschlossen die älteren Bauern, man müsse den Geissler versöhnen und ihm Käse und Zieger als Schmerzensgeld auf den Stein legen. Das war ein guter Rat. Das Fänggenmännli holte die Ziegen wieder wie sonst, und bald kamen die Tiere wieder wohlgeweidet und milchreich nach Hause. Nur mussten die Bauern von nun an dem Geissler stets die doppelte Anzahl Käse und Ziger als Lohn auf den Stein legen.
Aber jene Burschen wollten es trotzdem nicht aufgeben, das Männlein zum Sprechen zu bringen. Weil sie nun aber wussten, wie stark und flink es war, versuchten sie es diesmal mit einer List. Es hatte nämlich die Gewohnheit, am Abend aus dem kleinen Brünnlein zu trinken, das dem Stein am nächsten war. Hinter dem Rücken der Dorfbewohner sammelten die Burschen heimlich manches Gläslein Kirsch und füllten das Brünnlein an einem heissen Sommertag damit.
Als nun der Geissler wie gewöhnlich trinken kam, schöpfte er mit der hohlen Hand. Befremdet durch den neuen Geschmack des Wassers, trank er zunächst nicht so kräftig wie sonst, sondern versuchte es mit einigen kleinen Schlücken. Bald behagte ihm der Kirsch, denn jetzt bückte er sich über das Brünnlein und trank in vollen Zügen. Berauscht taumelte er umher und fiel ohnmächtig zu Boden.
Da sprangen die Burschen aus ihrem Versteck hervor, banden ihn mit Seilen und schleppten ihn ins Dorf hinein in eine leere Kammer. Die Tür verschlossen sie fest und standen als Wachen davor. Sie wollten bis zum Morgen warten, wenn der Geissler seinen Rausch ausgeschlafen hätte. Aber um Mitternacht hörte man aus der Kammer plötzlich ein solches Gepolter, dass das ganze Haus erzitterte. Mit einem Mal ging der Kreuzstock in Trümmer, heraus stürzte der Geissler, und schon war er ausserhalb des Dorfes. Man sah ihn – mehr fliegend als laufend – durch die Wiesen schnellen und im Wald verschwinden.
Als die Leute am andern Morgen ihre Ziegen austrieben, sass der Geissler nicht mehr auf dem Stein, und er ist auch nicht wieder gekommen. Kein noch so grosser Lohn an Käse und Ziger hat mehr geholfen. Seitdem mussten die Bauern einen eigenen Hirten halten und ihm beinahe mehr Geld bezahlen, als sie aus der Milch erhielten.
Aus: Die Greifenfeder, F.Senft, Frauenfeld 1978
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.