Nicht weit von einer grossen Stadt lebte ein Besenmacher, welcher mit Mühe und Noth seine Frau und zwei Knaben zu ernähren vermochte. Diese giengen eines Tages in den Wald, um Nester zu suchen und fanden zu ihrem grossen Erstaunen eines, in welchem ein Vöglein saß, das goldene Eier legte. Darüber freuten sich die Knaben gar sehr, nahmen Eier, Vogel und Nest und eilten nach Hause zu ihrem Vater, dem sie den gefundenen Schatz zeigten. Der gute Mann gieng zum Goldarbeiter im Dorfe, welcher die Eier besah, und ihm erklärte, dass er ihn und seine ganze Familie erhalten wolle, wenn der Besenmacher ihm das Vöglein abtrete. Dessen war Jener wohl zufrieden und sie zogen alle in das Haus des Goldschmieds, wo sie eine Zeit lang die besten Tage hatten.
Das Vöglein aber legte täglich ein goldenes Ei. Einmal hörte der Goldschmied, wie das gute Thierchen sang: »Wer mein Hirn isst, der wird König und wer mein Herz verspeist, der erhält täglich 100 Dukaten.« Kaum hatte der gierige Schmied diese Worte gehört, dass er das Vöglein tödtete und es zum Braten in die Pfanne legte. Während er aber auf einen Augenblick hinausgegangen war, kamen die zwei Knaben des Besenmachers in die Küche, rochen den Braten und verzehrten denselben zusammen, so dass der Jüngere das Hirn, der Ältere das Herz zu verzehren bekam. Als der Goldschmied wieder in die Küche trat und das Vöglein verschwunden sah, gerieth er in große Wuth und jagte die ganze Familie fort, wodurch diese wieder in das größte Elend gerieth.
So mussten sich die Brüder entschliessen, in die Fremde zu reisen, um die Eltern zu unterstützen. So kamen sie zu einem Scheidewege, mitten im Walde, bei welchem der Jüngere ostwärts, der Ältere südwärts zog. Der Jüngere kam nach langem Marsche in die Hauptstadt des Reiches, wo soeben der König gestorben und von den Grossen des Reiches die Vereinbarung getroffen worden war, dass derjenige König werden sollte, der hoch zu Ross zuerst in der Frühe des folgenden Morgens den heiligen Hügel vor der Stadt erreichte. Der junge Mann, welcher kräftig und schön aussah, erhielt ebenfalls ein Pferd und durfte sich am Wettrennen betheiligen. Das Glück war ihm hold, er sprengte wie ein alter Reiter den Hügel hinan, blieb Sieger und wurde noch desselbigen Tages zum Könige gekrönt und ausgerufen. Er ließ seine Eltern sogleich zu sich kommen, ward ein grosser Fürst und Held und regierte lange und glückliche Jahre.
Der ältere Bruder aber hielt sich in der ersten Nacht in einem großen Gasthofe an der Heerstraße auf, und als er am andern. Morgen erwachte, fand er einen großen Geldbeutel vor sich liegen mit vollgültigen hundert Dukaten. Da sich nun das Wunder täglich wiederholte, heirathete er die wunderschöne und reiche Wirthstochter, und zog mit ihr an den Hof seines Bruders, wo er zum Ritter des Reiches geschlagen wurde.
Quelle: Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden, Teil 1, Zürich 1874, in Disla bei Disentis erzählt.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.