Die boshafte weiße Frau

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Die boshafte weisse Frau.

Anweit des Dorfes Präz findet sich eine weite, schöne Halde, eine von der Dorfjugend zum »Schlittlen« im Winter bevorzugte Örtlichkeit.

Vor alten Zeiten geschah es einmal an einem schönen Winterabende, dass die liebe Jugend wie gewohnt hinausging, um im Schlittlen sich lustig zu machen, und es war mehr als eigentümlich, dass an diesem Abende die Jungen wie Abschied nahmen von ihren Eltern. Sie wären gerne diesmal geblieben, und doch zog's sie nach der Schlittbahn hin.

So rutschten sie mehrmals in langem Zuge die Halde hinunter, waren seelenvergnügt und dachten an kein Heimgehen, und schon nahte Mitternacht.

Plötzlich erschien wie aus einer Wolke tretend, eine schneeweiss gekleidete Frau mit einem grossen, breiten und langen Schlitten und ladete die Jungen ein, auf ihren Schlitten zu sitzen, auf diesem gehe es viel schöner. Die Kinder glaubten ihren schmeichelnden Worten und setzten sich Alle arglos auf den Schlitten der weissen Frau; die Fahrt begann.

Doch nur zu balde wurden die armen Kleinen in ihrem Vertrauen getäuscht; der Freudenzug sollte sich in einen Trauerzug verwandeln und Keines von ihnen seine Eltern wiedersehen. In rasender Eile lief der Schlitten, jämmerlich schrien die armen Verlorenen und wollten vom Schlitten weg, aber sie waren gebannt; die böse Frau lachte grässlich in ihrer Schadenfreude, als sie ihr Werk gelingen, ihre Tat gekrönt sah – jeden Schritt verlor eines der Kinder den Kopf, einen Arm oder ein Bein – unten am Ende der Schlittbahn war nichts mehr auf dem Schlitten zu finden; er stand allein am Saum des finstern Waldes. Die böse, weisse Frau war verschwunden und totenstille Alles ringsum.

Wie nun die Kleinen so gar nicht heimkommen wollten, gingen die beängstigten Eltern nach der Schlittbahn hin und gewahrten nur zu balde zu ihrem Schrecken das Geschehene, konnten aber von dem Ereignis keinen klaren Begriff sich machen, bis ein taubes Mädchen, das von den lieblichen Worten der bösen Frau nichts verstehen konnte und bei einer Staude stehend zurückgeblieben war, erzählte, wie sich Alle auf den Schlitten der weissen Frau gesetzt hätten, aber nicht mehr zurückgekommen seien.

Die betrübten Eltern sammelten die Glieder ihrer geliebten Kinder, die zerstreut lagen der Bahnlänge nach. – Das war ein trauriges Begräbnis!

Quelle: Jecklin, Dietrich, Volkstümliches aus Graubünden. Teil 1, Zürich 1874

 

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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