Die Kraftwurzel

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Im Luzerner Entlibuch an der Risetenfluh, hatte ein Senn namens Lustenberger eine Alp, auf der sein Bub die Ziegen hütete. Auf diese Alp kam einst ein Fahrender Schüler, und der fragte den Sennen, ob er etwa vierzehn Tage in seiner Sennhütte aus- und eingehen könnte. Der Senn bewilligte es ihm gastfreundlich. Nun stieg der Fahrende den ganzen Tag in den Flühen herum, las besondere Steine auf und sammelte allerlei heilsame Kräuter.

Als die vierzehn Tage um waren, nahm er seinen Sack auf den Rücken und machte sich zum Fortgehen bereit. Er verabschiedete sich vom gastlichen Senn und fragte ihn, was er ihm schuldig sei, er wolle jetzt bezahlen. Doch der Senn nahm nichts an und sagte, er sei ihm nichts schuldig, auch dürfe er wiederkommen, wenn es ihn gelüste. Er habe ihnen doch auch viel Kurzweil gemacht, womit sie sich bezahlt genug erachten.

Diese Gastfreundlichkeit freute den Fahrenden Schüler. Er dankte dem Sennen. Zu seinem Sohne aber, dem Geißbuben, der ihn ein Stück Wegs begleitete, sagte er, er wolle ihm doch etwas geben. Und er sprach: "Entweder sollst du Musik machen können wie weit und breit kein Mensch im Land, oder du sollst also spielen können, daß du immer gewinnst, oder du sollst Kraft genug bekommen. Nun wähle!"

Der Geißbub besann sich nicht lange. Er sagte: "Zum Musikmachen habe ich keine Zeit, beim Spielen müßte ich andere Leute um ihr Geld bringen, so wähle ich Kraft."

Jetzt überreichte ihm der Fahrende Schüler ein Würzlein und sagte zu ihm: "Wenn du jeweilen vor Sonnenaufgang dreimal ins Würzlein beißest, hast du für den ganzen Tag Kraft genug." Dann nahm er Abschied und ging bergabwärts.

Nach einigen Tagen wollte der Geißbub probieren, ob auch etwas Wahres an der Sache sei. Bevor die Sonne um die Bergnasen zu gucken vermochte, biß er dreimal in das seltsame Würzlein. Darauf machte er sich hinaus und versuchte, die Grundschwelle der Sennhütte zu heben. Und siehe, es ging ganz leicht. Das freute ihn unbändig, denn nun sollte ihm einer kommen.

Bald versuchte er's mit Schwingen. Er schwang bald alle die gerühmtesten Schwinger im ganzen Entlibuch obenaus und warf sie also, daß sie auf dem Rücken lagen wie im Grab. Nach kurzer Zeit galt er für den Schwingerkönig von Entlibuch.

Da hielten die Entlibucher eine große Älplerkirchweih ab, bei der es ein großes Schwingen gab. Zu diesem Alpfeste stellten sich auch die bärenmäßigen, stiernackigen Sennen des Berner Oberlandes ein. Wie wacker sich die Entlibucher auch hielten, den vierschrötigen Riesen des Berner Oberlandes waren sie nicht gewachsen. Alle Schwinger des Entlibuchs, auch die besten, wurden geworfen, daß sie dalagen wie das Zicklein in der Pfanne. Die Berner Oberländer fingen schon zu jauchzen an und meinten, sie hätten's gewonnen. Doch die Entlibucher gaben es noch nicht verloren. Sie sagten, sie hätten noch einen Geißbuben; erst wenn dieser auch gebodigt sei und auf dem Rücken liege, gäben sie's auf.

Nun mußte der Geißbub, der kleine Lustenberger, in den Kreis treten. Wie ihn die Oberländer Sennen sahen, lachten sie laut auf und sagten, sie wollten den Kleinen gleich erdrücken. Doch die Entlibucher bestanden auf dem Kampf, und so mußte der zweitbeste Oberländer mit ihm den Hosenlupf probieren. Jetzt ging's los. Sie packten einander gut an, und der Oberländer dachte schon, er hätte gewonnenes Spiel, denn der Geißbub kam ihm gar leicht vor. Aber nun langte der kräftig zu und zog den Oberländer so lange hin und her, bis er Blut spie und sagte, er gebe es auf, der Beste müßte mit ihm schwingen, da er wirklich eine unbändige Kraft habe. Nun trottete der bäumigste Berner Senn auf den Geißbuben zu. Er drückte ihm wie üblich erst die Hand, und danach nahmen sie einander an den Hosen und schwangen eins zusammen, daß der Rasen aufgerissen wurde. Aber unversehens lag der schwere Oberländer wie ein abgeasteter Baumstamm im Weidgras.

Von da an galt der Geißbub als der Stärkste im Land. Das kam seinem Vater gar dienlich, als er baute. Er wollte eine schwere Schwelle zum Hause führen lassen, die zwei Pferde nicht zu ziehen vermochten. Dann nahm sie der Bub auf die Schultern und trug sie ohne weiteres nach Haus. Auch ein paar Baumstämme, die in einem Graben lagen, trug er mir nichts dir nichts zum Hause.

Als nun sein Vater all diese Wunderdinge sah, stand ihm der Verstand schier still. Er schüttelte den Kopf und sagte endlich: "Bub, das geht nicht mit rechten Dingen zu; du mußt mit mir zum Pfarrer." Davon wollte aber der Geißbub nichts wissen, und lange gelang es ihm, sich auszureden. Als es jedoch dem Vater immer unheimlicher wurde und er immer stärker in den Sohn drang, er möchte doch mit ihm zum Pfarrer kommen, da er ja gewiß verhext sei, ging er mit ihm eines Abends ins Pfarrhaus. Wie er nun beim Pfarrherrn war und dieser ihm das Geheimnis von der Kraftwurzel herausgelockt hatte, sagte er, er könne ihn nicht absolvieren in der Beichte, wenn er die Kraftwurzel nicht zurückgebe oder wegwerfe. Dann ging der Geißbub mit seinem Vater betrübt heimzu. Zu Hause aber verbarg er die Kraftwurzel. Doch als er sie einige Zeit danach wieder an der Stelle holen wollte, wo er sie verborgen hatte, fand er sie nicht mehr.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, 16. Auflage, Stuttgart ca. 1920
 

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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