Jean der Dumme und Jean der Gescheite

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

 

In der Nähe von Basel wohnte ein Mann, der hatte zwei Söhne. Sie sahen einander so ähnlich, dass der eigene Vater sie zuweilen kaum auseinanderhalten konnte. Der Vater war alt und eines Tages starb er. Der eine Sohn, der von allen Leuten Jean der Dumme genannt wurde, sagte zu seinem Bruder: „Nun ist unser Vater tot. Er hat uns nichts hinterlassen, deshalb wollen wir ihn selbst aufteilen und jeder von uns bekommt ein Stück.“ Der Bruder, der Jean der Gescheite genannt wurde, war hell entsetzt. „Was meinst du denn damit? Wir können unseren Vater doch nicht auseinanderschneiden! Da mache ich nicht mit. Bevor es soweit kommt, gebe ich ihn dir lieber ganz.“ Damit war der dumme Jean auch zufrieden. „Gut, wenn du meinst“, sagte er. „Dann packe ich ihn und nehme ihn mit.“

Also nahm er den toten Vater und machte sich auf den Weg nach Basel. An einer Strassenkreuzung stellte er die Leiche mitten auf den Weg, stützte sie mit zwei Stöcken und versteckte sich im Gebüsch. Nach einer Weile kam ein Metzger gewandert, der trieb ein paar Kälber vor sich her. Als die Tiere die seltsame Gestalt auf der Strasse bemerkten, hielten sie an und wollten keinen Schritt mehr vorwärtsgehen. „He, Alter!“, schrie der Metzger. „Geht bitte von der Strasse weg! Ihr haltet meine Kälber auf!“ Der angeredete Alte antwortete nicht und tat auch sonst keinen Mucks. Da wurde der Metzger wütend. „Wenn ihr nicht bald aus dem Weg geht, dann schlage ich Euch meinen Stock über den Schädel!“ Und als sich der alte immer noch nicht rührte, ging der Metzger wirklich mit seinem schweren Wanderstock auf ihn los und prügelte so lange auf ihn ein, bis er umfiel.

Darauf hatte der dumme Jean hinter seinem Busch gewartet. Er sprang hervor und begann laut zu zetern: „Zu Hilfe! Du hast meinen Vater umgebracht! Einen harmlosen Alten, der nicht mehr gut hörte und nur auf mich wartete, bis ich mein Geschäft verrichtet habe. Du Unglücksrabe, wie willst du mir meinen Vater jetzt wieder lebendig machen?“

„Ich wusste doch nicht, dass der Alte taub ist“, sagte der Metzger ganz erschrocken. „Es war ein Unfall! Ich kann ihn dir nicht wieder lebendig machen, aber hier gebe ich dir Geld.“ Mit diesen Worten drückte er dem dummen Jean ein Säcklein voller Münzen in die Hand. Jean nahm das Geld und sagte: „Also gut, da sich ohnehin nichts mehr ändern lässt, nehm ich halt das Geld. Wir sind quitt. Was sollen wir uns auch mit dem Gericht herumstreiten?“ Er steckte das Geld ein, packte den Vater auf die Schulter und wanderte nach Hause zurück. Dort sagte er seinem Bruder: „Siehst du, was ich für unseren Vater bekommen habe? Jetzt haben wir wenigstens genug Geld für eine anständige Beerdigung.“

Jean der Gescheite war ganz neidisch, als er die Geschichte hörte. „Du hast einfach mehr Glück als ich!“, sagte er. Sie beerdigten den Vater, wie es sich gehört.

Einige Tage später sagte der dumme Jean zu seinem Bruder: „Wir müssen unseren Ofen aufteilen.“- „Was willst du? Du bist doch verrückt! Im Winter, wenn es kalt wird, brauchen wir einen Ofen und der geht nur, wenn er ganz ist!“- „Du kannst reden, so lang du willst“, sagte Jean der Dumme. „Ich will meinen Anteil am Ofen!“

Er nahm die Hacke, haute ein paar Steine aus dem Ofen heraus, steckte sie in eine Schachtel und macht sich damit auf den Weg nach Basel. In der Stadt ging er bei allen Gold- und Silberschmieden vorbei und lud sie ein, im Hotel Drei Könige vorbeizukommen; er habe kostbare Steine zu verkaufen. Dann mietete er ein Zimmer im Hotel, liess sich eine Mahlzeit bringen und wartete auf die Schmiede. Bald drängten sich so viele Leute im Gasthaus, dass er sie abweisen musste. Er sagte: „Gleich wird es dunkel, das ist mir zu gefährlich. Da könnt ich meine Steine verlieren. Kommt alle morgen wieder.“

Als alle gegangen waren, bat er den Gastwirt, ihm für die Nacht ein besonders sicheres Zimmer zu geben: Er habe kostbare Steine dabei. Der Gastwirt versicherte ihm, er habe ein sehr gutes Zimmer für ihn, da könne gar nichts passieren. Mitten in der Nacht nahm der dumme Jean die Ofensteine aus dem Sack und warf sie in den Rhein. Früh am nächsten Morgen fing er laut zu schreien an: „Haltet den Dieb! Was ist das für eine Absteige hier, wo man nicht mal in seinem eigenen Zimmer sicher ist? Meine wertvollen Steine wurden gestohlen!“ Der Gastwirt versuchte ihn zu beruhigen. „Eine Räuberhöhle ist das hier!“, schrie Jean. „Die Steine waren alles, was ich hatte. Zehn Jahre habe ich schwer dafür geschuftet und nun sind sie weg! Aber das erzähle ich dem Richter! In diesem Wirtshaus hier ist alles voller Diebe!“

Der Gastwirt bekam Angst, dass die Leute das hören würden und nicht mehr bei ihm übernachten wollten und er fragte Jean, wie viel denn die Steine wert waren. „Zehntausend Francs, wenn du dafür nicht zum Richter gehst und mit deinem Geschrei aufhörst.“ Jean der Dumme war einverstanden, nahm das Geld entgegen und ging damit nach Hause zurück. Dort zeigte er es seinem Bruder und sagte: „Siehst du, was mir die paar Steine eingetragen haben? Und du wolltest mich daran hindern, den Ofen zu teilen!“ – „Wie hast du das angestellt?“, fragte der Bruder neidisch. „Das war ganz leicht. Ich bin einfach nach Basel gegangen und habe laut gerufen: ‚Kauft kostbare Steine!’ Das war schon alles!“

Jean der Gescheite wurde ganz eifersüchtig. Wenn sein dummer Bruder so etwas fertigbrachte, dann wollte er es auch probieren. Also füllte er auch einen Sack mit ein paar Steinen vom Ofen, stellte sich in Basel auf die Strasse und schrie: „Kostbare Steine zu verkaufen!“ Das hörte der Gastwirt der Drei Könige, der mittlerweile ahnte, dass er einem Betrüger auf den Lärm gegangen war. Er glaubte, es sei wieder Jean der Dumme, der das schrie und meldete es der Wache und die kam und verhaftete Jean den Gescheiten.

Als sein Bruder nach drei Tagen noch nicht zurückgekehrt war, machte sich Jean der Dumme auf die Suche. Er ging bei allen Gefängnissen vorbei und in einem hörte er durch die Tür seinen Bruder stöhnen. „Warum haben sie dich eingesperrt?“, flüsterte er durch die Tür. „Du bist an allem schuld!“, antwortete der Gescheite. „Man will mich wegen deiner Betrügereinen an der tiefsten Stelle des Rheins ertränken.“

„Du bist ein Angsthase!“, sagte der Dumme. „Aber du brauchst kein Angst zu haben. Wir werden die Plätze tauschen.“ Weil sie sich so ähnlich sahen, gelang es ihm, seinen Bruder aus dem Gefängnis zu befreien und selber dazubleiben, ohne dass es jemand bemerkte. Jean der Gescheite ging erleichtert nach Hause. Der Dumme war gerade eine Viertelstunde im Gefängnis, da sah er durchs Fenster eine schöne Kutsche auf der Fahrt nach Basel, die von einem vornehm gekleideten Fuhrmann gelenkt wurde. „Nein, ich will sie nicht, ich will sie nicht!“, begann er laut zu schrein.

Der Kutscher, der neugierig geworden war, hielt vor seinem Fenster an. „Was willst du nicht?“, fragte er. „Die Königstochter will ich nicht. Sie wollen mich zwingen, sie zu heiraten, aber ich lasse mich lieber ersäufen als die Tochter des Königs zu heiraten.“ Da hatte der Fuhrmann eine Idee. „Weißt du was? Wir tauschen die Plätze. Du nimmst mein schönes Fuhrwerk und die schönen Pferde und ich gehe an deiner Stelle ins Gefängnis. Ich werde die Prinzessin heiraten.“ Jean war einverstanden und es gelang ihnen, die Plätze zu tauschen. Zufrieden fuhr Jean der Dumme mit seiner Kutsche nach Hause.

Am nächsten Tag kam die Wache, um den Betrüger aus dem Gefängnis zu holen. Sie merkten nichts von dem Tausch. Der Fuhrmann schrie immer wieder: „Ich nehme sie ja! Ich will sie ja nehmen!“- „Wen willst du nehmen?“, fragte ein Gendarm. „Na, die Königstochter!“, antwortete der Fuhrmann. „Ja, ja, die wird man ausgerechnet dir geben!“ Er wurde auf die Rheinbrücke geführt und an der tiefsten Stelle ertränkt.

Ein paar Tage später kam Jean der Dumme mit seinem schönen Fuhrwerk und den schönen Pferden nach Basel gefahren. Er knallte laut mit der Peitsche und die Leute sahen ihm nach. „Ist das nicht Jean der Dumme, der da so viel Lärm macht? Aber den haben sie doch im Rhein ertränkt!“ Die Mutigeren getrauten sich, näher heranzugehen. „Bist du nicht der, den sie neulich ertränkt haben? Weshalb bist du noch am Leben?“

„Natürlich bin ich es“, antwortete Jean. „Unten im Rhein habe ich den Eingang zum Zwergenreich gefunden. Dort gibt es alles, was man sich nur wünscht. Ich zum Beispiel habe diese Pferde und den schönen Wagen mit heraufgenommen. Geht nur selber schauen!“ Die geldgierigen Basler liessen sich das nicht zweimal sagen. „Aber wo liegt der Eingang?“, fragte sie drängend. Jean führte sich auf die Rheinbrücke und zeigte zu der tiefsten Stelle hinunter: „Genau da geht’s hinein!“ Die Basler sprangen ins Wasser, einer nach dem anderen. Die Ersten, die gegen das Ertrinken kämpften, gurgelten laut: „Gluglug!“ – „Was sagen sie?“, fragten die, die noch oben standen. „Sie sagen, es hat für alle genug!“, antwortete der Dumme. Da sprangen die anderen auch hinterher, nur die Königstochter nicht. Jean der Dumme nahm sie in den Arm. „Jetzt sind alle Basler ertrunken und wenn du mich nicht heiratest, schick ich dich hinterher.“ Aber sie hätte ihn auch so genommen und so wurde Jean der Dumme zum König der Stadt Basel.

 

Quelle: Die schönsten Märchen der Schweiz, Dirk Vaihinger, 2012

Les „foles“ contes fantastiques patois recueillis dans le jura bernois, Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Bände 15 bis 22. Basel 1911- 1918/1919, Arthur Rossat

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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