Eine Nacht im Paradies

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Eine Nacht im Paradies

Rätoromanisches Märchen

Es waren einmal zwei gute Freunde, die hatten einander so gern, dass sie folgenden Schwur getan haben: wer als erster heiraten würde, der müsse den anderen zum Trauzeugen nehmen, selbst wenn dieser sich am Ende der Welt befände.

Nach einiger Zeit stirbt einer der beiden Freunde. Der andere, als er heiraten wollte, wusste nicht wie sich helfen und hat den Pfarrer um Rat gefragt. „Schlimme Geschichte“, hat der Pfarrer gesagt, „dein Wort musst du halten. Lade ihn ein, auch wenn er gestorben ist. Geh auf sein Grab und sage ihm, was du zu sagen hast. An ihm ist es dann, ob er kommen will oder nicht.“

Der Jüngling ist zum Grabe gegangen und hat gesagt: „Freund, der Tag ist gekommen, komm und sei mein Trauzeuge!“

Die Erde hat sich aufgetan und der Freund ist herausgesprungen: „Ja, ich komme, ich muss mein Versprechen halten, denn wenn ich es nicht halte, muss ich, weiss Gott wie lange, im Fegefeuer bleiben.“

Die beiden Freunde gehen nach Hause und dann in die Kirche zur Trauung. Dann wurde das Hochzeitsmahl gehalten und der verstorbene junge Mann hat angefangen, allerlei Geschichten und Spässe zum Besten zu geben. Von dem aber, was er in der andern Welt gesehen hatte, hat er kein Wort gesagt. Der Bräutigam konnte es nicht erwarten, seinem Freund Fragen zu stellen, aber er fand den Mut nicht dazu. Am Ende des Mahles erhebt sich der Tote und sagt: „Freund, da ich mein Versprechen gehalten und dir den Dienst erwiesen habe, könntest du mich ein Stück weit begleiten.“ – „Natürlich, warum nicht? Aber, du wirst mich verstehen, nur einen Augenblick, du weißt, es ist die erste Nacht mit meiner jungen Frau….“ – „Aber selbstverständlich, ganz wie du willst.“

Der Bräutigam hat seine Frau geküsst: „Ich gehe einen Augenblick mit meinem Freund hinaus, bin aber gleich wieder da!“ Und er ist mit dem Toten hinausgegangen.

Von diesem und jenem plaudernd sind die beiden zum Grab des Freundes gekommen. Sie haben sich umarmt. Da hat der Lebende überlegt: Wenn ich ihn jetzt nicht frage, werde ich ihn nie mehr fragen können und er hat sich Mut gemacht und hat gesagt: „Hör, mein Lieber, ich möchte dich etwas fragen, dich, der du tot bist: Drüber, wie lebt man drüben?“ – „Ich darf nichts sagen“, erwiderte der Tote, „aber wenn du es wissen willst, so komm mit ins Paradies.“

Das Grab hat sich geöffnet und der Lebende ist dem Toten gefolgt. Und sie haben sich gleich im Paradies befunden. Der Tote hat seinen Freund zu einem schönen Palast aus Kristall und mit goldenen Toren geführt, in dem Engel musizierten und den Heiligen zum Tanz aufspielten. Und Sankt Peter spielte die Bassgeige. Der Lebende stand da mit offenem Mund und wer weiss, wie lange er dort gestanden wäre, hätte er nicht das Übrige auch sehen wollen. „Komm nun anderswo hin“, hat ihm der Tote gesagt und hat ihn in einen Garten geführt, in dem die Bäume statt der Blätter Vögel von allen Farben trugen. Und die Vögel sangen, dass es eine Lust war. „Gehn wir weiter; was bleibst du da ganz verzaubert stehen!“ hat der tote Freund gesagt. Und er hat den andern auf eine Wiese gebracht, wo die Engel tanzten, fröhlich und innig wie Verliebte.

„Nun will ich dir einen Stern zeigen!“, hat der Freund gesagt. Und auf den Sternen wäre der andere nie müde geworden, zu schauen, zu staunen. Da waren die Flüsse statt aus Wasser aus Wein und die Erde war aus Käse.

Auf einmal ist der Lebende zusammengefahren: „Sag, Freund, es werden wohl schon einige Stunden vergangen sein, seitdem ich hier oben bin? Ich muss zu meiner jungen Frau zurückkehren, de in Sorge um mich sein wird.“ – „Bist du des Schauens schon überdrüssig?“ – „Überdrüssig? Wenn es an mir läge….“ – „Ja, es gäbe noch vieles zu sehen.“ –„Ich glaub es dir, aber es ist besser, wenn ich nun gehe.“ – „Gut, ganz wie du willst!“ Und der Tote hat ihn bis zum Grabe begleitet und ist dann plötzlich verschwunden.

Der Lebende aber ist aus dem Grabe hervorgekommen und erkannte den Friedhof seines Dorfes nicht mehr. Der Gottesacker war voller Denkmäler, Statuen und hoher Bäume. Er tritt aus dem Friedhof hinaus und statt der kleinen Steinhäuschen sieht er hohe Häuser und Trams und Autos und Flugzeuge. „Wo, zum Teufel, bin ich denn? Ich habe den Weg verfehlt? Mein Gott, wie sind diese Leute gekleidet?“ Er fragt einen alten Mann: „Mein Herr, dieses Dorf ist…?“- „Ja, so heisst diese Stadt.“ – „Gut, ich weiss nicht wieso, aber ich finde mich nicht mehr zurecht. Könnt ihr mir sagen, wo das Haus des jungen Mannes ist, der gestern Hochzeit gefeiert hat?“ – „Gestern? Hm, ich bin hier Küster und kann sagen, dass gestern keine Trauung stattgefunden hat.“ – „Wie? Ich bin’s, der gestern hier Hochzeit gefeiert hat“, gib der Zurückgekehrte zur Antwort und er erzählt dem andern, dass er seinen toten Freund ins Paradies begleitet hatte. „Du träumst, mein junger Mann“, hat der Alte gesagt, „das ist eine alte Geschichte, die hierzulande erzählt wird, die Geschichte vom Bräutigam, der seinem Freund ins Grab gefolgt und nicht mehr zurückgekehrt ist und von der Braut, die aus Herzeleid gestorben ist.“ – „Aber nein, der Bräutigam, das bin ich!“ – „Hör, das Einzige was du tun kannst ist, dass du mit unserem Bischof sprechen gehst.“ – „Bischof? Aber hier im Dorf gibt’s nur einen Pfarrer.“ – „Was heisst Pfarrer! Es sind schon Jahre und Jahre, dass hier in dieser Stadt der Bischof wohnt.“ Und der Alte hat den anderen zum Bischof geführt.

Wie der junge Mann erzählt hat, was ihm zugestossen war, hat sich der Bischof an eine Geschichte erinnert, die er als Knabe gehört hatte. Er nahm seine Bücher zur Hand und hat zu blättern begonnen: vor dreissig Jahren? Nein; vor fünfzig Jahren? Nein; vor hundert? Nein; zweihundert? Nein! Und er blättert weiter in seinen Büchern. Endlich findet er tatsächlich die Namen, die er suchte, auf einem ganz zerfetzten und vergilbten Blatt. „Es war vor dreihundert Jahren gewesen!“, hat der Bischof gesagt, „da ist jener junge Mann auf dem Friedhof verschwunden und seine junge Frau ist vor Schmerzen gestorben. Lest, wenn Ihr nicht glaubt.“ – „Aber ich bin es selbst!“ – „Bist du denn in der andern Welt gewesen? Erzähl mir, erzähl mir etwas davon!“

Der junge Mann aber ist gelb geworden wie der Tod und ist zu Boden gefallen. Und so ist er gestorben, ohne etwas von dem, was er gesehen hatte, erzählen zu können.

 

Quelle: Rätoromanische Märchen, Leza Uffer, Eugen Diederichs Verlag

 In Furàn, dem Rätoromanischen des Friaul erzählt und mit dem Titel „Una notte in Paradiso“ in italienischer Sprache veröffentlicht von Italo Calvino in „Fiabe Italiane“ Bd 1, Nr. 40, S. 141, 1956

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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