Zur alten Zeit, als noch die liebe Einfalt in unserm Lande »gäng und gäb« war, geschah es einmal, dass ein Bauer in Tenna in Graubünden in seinem Garten ein ganz merkwürdiges Tier fing.
Er trug das sonderbare Geschöpf schnell heim, legte es in die Hutschachtel seiner Frau, damit es ja nicht hart liegen müsse, und lief damit zum Pfarrer.
Aber der Herr Pfarrer, der sonst ein gar gelehrter Mann war, hatte sein Lebtag kein so seltsames Tier gesehen. „Das ist etwas ganz Absonderliches“, sprach der Pfarrer, „das sieht man am schwarzen Fell, an den fürchterlich breiten Tatzen, an der spitzen Schnauze und an den kleinen, listig zugekniffenen Äuglein. Vielleicht ist es sogar schlimmer als ein Basilisk und bringt Unglück!“ und er befahl dem Bauern, den Gemeinderat zusammenzurufen, der sollte entscheiden, was mit dem gefährlichen Tier zu geschehen hatte.
Der Bauer lief nun voller Angst mit seinem landesgefährlichen Ungetüm zum Gemeinderat und als dieser versammelt war, besahen sich alle die fatale Sache und kamen zu keinem Entschluss. Schliesslich wurde ausgerufen, dass alle stimmfähigen Gemeindemitglieder mitzuteilen hätten, was mit dem unglücksbringenden Tier anzufangen sei. Aber als sie kamen aus den Häusern und Höfen, um die Landplage zu beschauen, konnte sich keiner erinnern, je von einem solchen Tier gehört oder gelesen, geschweige denn, eines mit eigenen Augen gesehen zu haben. Man beschloss also das Ungeheuer zu beseitigen und der Gemeinderat stimmte in seiner hohen Weisheit über diesen Fall ab, das Tier feierlich vom Leben zum Tode zu bringen.
Aber nun entstand eine weitere, sehr gewichtige Frage: Auf welche Art sollte das Ungeheuer enden. Durch Henkershand, Kopfabschneiden, Verbrennen oder Ersäufen? Keiner wusste den richtigen Rat. So verging der Tag, bis am Abend ein Wildmannli ins Dorf kam, das in den Bergen das Vieh hütete, und das wurde auch um seine Meinung gefragt.
Das Wildmannli lächelte schelmisch, und sagte: „Man muss dieses Untier lebendig begraben!“
Das war ein Rat der allen gefiel und er kostete auch nicht viel. Sogleich ging die versammelte Gemeinschaft zum Garten des Bauern. Es wurde ein Loch gegraben, das Tier lebend hineingetan, und eilig Erde darüber geschüttet.
Alle waren froh, dass sie das gefährliche Geschöpf los waren und der Maulwurf? Der grub sich einen Weg tief in die Erde und bis heute zeigt er sich den Menschen nur selten.
So aber kam es, dass man denen auf Tenna nachsagt, sie hätten ihre Scheermaus (Maulwurf) lebendig vergraben.
Quelle: Jecklin, Dietrich, Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878. Leicht bearbeitet. Originaltitel: "Wild-Mannli's Rath"