Es war einmal oben in den Bergen ein Mann, der war so arm, dass er oft kein Brot hatte, um seine Kinder satt zu machen. Sie hatten aber eine Geiss, die schenkte ihnen süsse Milch zur Morgen- und zur Abendsuppe.
Am Morgen, ehe die Sonne aufging, zog der Hirtenbub durch das Dorf und rief alle Geissen zusammen.
Er führte sie hinauf zur Alm, wo sie lustig umhersprangen und sich an würzigen Kräutern labten.
Eines Abends kehrte der Geissbub vom Berge heim ohne das Geisslein. Zu den Kindern sagte er, er hätte gerufen und geflötet, die Geiss sei nicht gekommen. Gleich morgen wollte er sie eifrig suchen.
Die Kinder gingen traurig heim, und an diesem Abend gab es nur trocken Brot.
Früh am Morgen aber steigt der Vater auf zur Almenwiese. Er steigt und klettert, schaut hinter jeden Hügel, in jeden Graben, ruft und sucht.
«Ihr lieben Vöglein, saget an, lief meine Geiss den Berg hinan?»
«Wir haben keine Geiss gesehn, musst höher in die Berge gehn!»
Bald kommt der Abend, er hat das Tier nicht gefunden, müde sinkt er im Grase nieder und schlummert ein.
Da hört der Vater im Traum ein feines Klingen – ein kleines Männlein kommt hinter einem Fels hervor und führt an der Hand das Geisslein. Das Männlein breitet ein weisses Tüchlein aus, stellt eine Schale Milch darauf und legt drei Käslein daneben. Husch, ist es verschwunden.
Das feine Klingen weckt den Vater: Da steht die Geiss vor ihm, im Fell Muscheln und Schneckenhäuslein und meckert fröhlich.
Auf dem weissen Tuch findet der Mann Milch und Käse, die helfen ihm Hunger und Durst stillen.
Wie er sich erhebt, steht wie im Traum das Männlein da und spricht: «Nun führ die Geiss nach Haus, doch achte, dass sie nichts verliert von dem, was sie im Fell trägt. Im Stall zupfe sorgsam alles ab, es wird euch aus aller Not helfen. Jeden Abend aber stelle ein Schälchen Rahm vor die Türe. Und hüte dich, dass dich der Wunderfitz nicht sticht, wenn du aus Neugier lauschen möchtest, wer die Schale leert.»
Froh zieht der Vater heimwärts, und die Kinder laufen ihm entgegen: «Unsere Geiss ist wieder da!»
Das ist ein Jubeln, Tanzen, Springen! Und süsse Milch gibt es für die Kleinen.
Als alles still ist im Haus geht der Vater in den Stall. Er pflückt alle Muscheln, Perlen, Schneckenhäuslein aus dem Fell und legt sie in das weisse Tuch, wie ihn das Männlein geheissen.
Am frühen Morgen aber da glänzt es wie Gold auf dem Tüchlein. Nun sind sie reich!
Sie bauen sich ein Häuschen oben in den Bergen mit einem Stall für Kühe und Ziegen, das Geisslein aber bleibt ihnen das liebste.
So leben sie herrlich und in Freuden. Wenn abends die ersten Sterne blinken, Frau und Kinder schlafen, dann tritt der Vater vor die Tür, breitet ein weisses Tüchlein aus und stellt darauf eine Schale mit süssem Rahm. Ohne sich umzublicken geht er zurück ins Haus, damit ihn der Wunderfitz nicht steche, wie er es damals dem Männlein versprochen.
Die Schale und das Tuch aus dem Zwergenreich sind immer noch da.
Wenn ihr auf den Berg steigt, seht einmal nach!
Fassung Cora Büsch, nach: D.Jecklin, Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.