Schuster und Schneider

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

In einer Stadt wohnten ein Schuster und ein Schneider in demselben Haus. Eines Tages sagten sie zu einander: „Hier gefällt es uns nicht mehr, wir machen jetzt eine Reise und gehen in eine andere Stadt, aber das Essen müssen wir mitnehmen und das Werkzeug auch!“ Der Schneider sagte: „Du bist der stärkere von uns zweien, du kannst schon ein paar Brote mehr tragen zu deinem Werkzeug. Ich nehme nur drei Brote mit, denn damit habe ich zu essen genug!“ Der Schuster sagte: „Nein, sieben müssen es wenigstens sein, sonst geraten wir in Verlegenheit. Jeder nimmt sieben mit, und das reicht dann grad für eine Woche; bis dahin aber bekommen wir schon Arbeit!“
Der Schuster ging in seine Stube, packte das Werkzeug zusammen und legte sieben Brote dazu, der Schneider aber nahm nur drei mit. Dann wanderten sie zusammen durch die Welt. Am ersten Tage aß jeder ein Brot, am zweiten wiederum und ebenso am dritten Tage. Am nächsten Tag hatte der Schneider nichts mehr, deshalb sagte er zum Schuster: „So teil du mit rnir!“ Der Schuster war zornig, daß er seinen Rat nicht befolgt hatte, teilte aber das Brot mit ihm, und so auch am fünften Tage. Damit waren alle Brote aufgezehrt, und sie hatten nichts mehr zu essen. Weit und breit war kein Haus zu sehen, und da gab es auch keine Arbeit. Da geriet der Schuster in Zorn, legte seinen Werkzeugkasten nieder und sagte: „Deinetwegen muß ich jetzt Hungers sterben“, und er ergriff das Schustermesser und stach dem Schneider beide Augen aus und zog weiter. Der Schneider litt große Schmerzen und wand sich am Boden, schließlich aber tappte er auch weiter, den ganzen siebenten Tag hindurch, und gegen Abend kam er zu einem Gebüsch, unter dem er sich niederlegte. Er hörte, wie sich bald darauf Vögel in die Zweige setzten und zu einander sagten: "Wenn heute die Blinden wüßten, was diese Nacht für ein Tau fällt, sie würden sich mit dem Tau waschen und dann wieder sehend werden!“
Der Blinde hörte es, mochte kaum warten, bis die Sonne schien, dann wusch er sich und bekam das Augenlicht wieder. Nun sah er, daß er sich unter einem Galgen befand. Das war am neunten Tag, und er spürte furchtbaren Hunger. Da kam er auf seiner Wanderschaft zu einem Bienenstock, wo er dachte: „Aha, da gibt es Honig!“ Er wollte mit der Hand hineingreifen, aber da kroch die Bienenkönigin heraus und flehte: „Laß uns doch die Waben und störe uns nicht, wir werden es dir reichlich belohnen!“ Der Schneider senkte den Arm und zog mit knurrendem Magen weiter. Da sah er auf dem Felde ein Roß stehen. Er hatte Nadel und Messer bei sich und dachte: „Das will ich töten und ein Stück davon essen!“ Das Pferd aber begann zu reden und sagte: „Laß mich am Leben, ich werde es dir reichlich belohnen!“ Der Schneider zog weiter. Es war der zehnte Tag, und vier Tage lang hatte er nichts gegessen. Da sah er eine Mauer auftauchen, und bald stand er vor einer Ringmauer, wo der Pförtner grad das Tor schließen wollte. Der Schneider rief ihm zu: „Kannst du mir nicht ein Stücklein Brot geben, ich leide solchen Hunger, sonst muß ich sterben!“
Der Pförtner holte ihm das Brot, und als er es verschlungen, fragte der Schneider, ob er in dem Schlosse nicht Arbeit fände. Der Pförtner sagte, er wisse es nicht, er solle hier warten, er wolle gehen und den Herrn fragen. Bald kam er mit der Meldung zurück, der Herr lasse sagen, wenn er ein guter Schneider sei, so könne er hier Arbeit erhalten. So fand er im Schlosse als Schneider Arbeit.
Es ging drei Tage, so kam der Schuster auch vor das Schloß und erhielt auch Arbeit. Der Schuster war sehr erstaunt, den Schneider hier zu finden und wiederum sehend, er wagte es aber nicht, etwas darüber zu sagen, sondern tat, als ob sie die besten Freunde wären. Der Schneider mußte dem Herrn, der zu einem großen Gastmahl eingeladen war, einen flotten  Rock anfertigen, der Schuster ein paar Schuhe. Da er mit der Arbeit überaus zufrieden war, sagte der Herr: „Ihr dürft mich zum Gastmahl begleiten, vielleicht werdet ihr dort noch andere Bestellungen erhalten!“ Der Schuster aber hatte immer noch großen Zorn auf den Schneider, daß er damals nur drei Brote mitgenommen und seinetwegen solchen Hunger hatte leiden müssen. Er verklagte ihn deshalb beim Herrn: „Der Schneider verdient die Stelle nicht in dem Schlosse, denn er ist ein schlechter Mensch!“ Da ließ der Herr den Schneider zu sich kommen und fuhr ihn an: „Du bist, wie es scheint, ein Lump, und deshalb mußt du fort von hier!“ Der Schneider fing an zu jammern und zu bitten. Da sagte der Herr: „Wenn du in einer halben Stunde dreimal um die Ringmauer herumläufst und den Brunnen im Hof in einen Springbrunnen verwandelst, so darfst du bleiben, und dann muß der Schuster fort!“
Der Schneider lief vor das Tor hinaus, um sich nach einem Roß umzusehen. Als er eines am Wege stehen sah, bestieg er es und sagte zu dem Pförtner: „So, jetzt fang ich an, sieh, wie viel Zeit ich brauche!“ Das Roß flog mit ihm dreimal um die Mauer, so schnell wie der Blitz und in der Hälfte der ihm zugemessenen Zeit. Dann galoppierte es dreimal mit ihm um den Brunnen, der sogleich anfing zu springen. Als er dem Pferd auf den Hals klopfte, sagte es: "Du hast mir das Leben geschenkt, und ich habe dir einige gute Tage verschafft!“

Der Schneider hatte seine Aufgabe gelöst und durfte im Schlosse bleiben. Aber auch der Schuster durfte bleiben, weil der Herr in den nächsten Tagen Hochzeit feiern wollte und seine Braut ein paar neue Schuhe bedurfte. Die beiden Feinde wurden auch zur Hochzeit geladen. Da fingen sie wiederum Streit an. Der Schuster gewann die Oberhand und verleumdete den Schneider derart bei dem Herrn und der neuen Gemahlin, daß er fortgejagt werden sollte. Da bat er abermals um Gnade und erhielt eine Aufgabe, bei der ihm die Bienen halfen. (Der Erzähler erinnert sich nicht mehr an die Aufgabe.) Der Schneider durfte nun bleiben, und der Schuster wurde fortgejagt.

 

Quelle: J. Jegerlehner, Sagen und Märchen aus dem Oberwallis, Nr. 114


 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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